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In Shibuya sind die Menschen normalerweise sehr pingelig, wenn es um die Pünktlichkeit der Züge geht. Doch da an den Universitäten und Oberschulen von Tokio gerade die Zeit der Prüfungen ist, drückt man ab und an ein Auge zu. Zu dieser Zeit ist die Selbstmordrate am höchsten und die Züge kommen oft zu spät. Japan hat den selben Weg eingeschlagen wie der Rest der Welt. Wir haben ein striktes Schusswaffenverbot für Privatpersonen und teilweise lehnen sogar unsere Polizisten es ab, ihre Dienstwaffen zu tragen. Doch wir ruhen uns darauf aus und die Gewalt bleibt. In der restlichen Welt werden Überfälle und Amokläufe mit Schusswaffen verübt. Hier greift man dafür zu Küchenmessern und Teppich-Cuttern. In Japan kann jede Straftat verjähren, sogar Mord. Andererseits richten wir immer noch hin. Mit kurzen Stricken, die das Genick nicht brechen, sondern den Verurteilten, der erst an diesem Tag erfahren hat, dass er heute sterben wird und dessen Anwalt und Familie erst nach der Urteils-Vollstreckung von der Exekution erfahren werden, qualvoll ersticken lassen. Fortschritt existiert in dieser Welt nur noch auf technischer Ebene, was dazu führt, dass Eltern kein Verständnis dafür haben, wenn ihr Kind schlechte Noten nach Hause bringt aber umso mehr dafür, dass der Zug Verspätung hat, weil es sich davor warf. Dieses Land muss es endlich schaffen sich von seiner Vorstellung zu lösen, dass Selbstmord etwas ehrenhaftes ist, sonst bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. Doch genau aus diesem Grund verspüre ich immer wieder den Wunsch, gerade diesen Ausweg zu wählen. Gerade jetzt denke ich: „Naoko, was willst du auf dieser Welt? Sie ist so hässlich und farblos. Alles ist grau.“ Beim Anblick der Bahnsteigkante wird mir schwindelig. Ich muss an die Stelle aus „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ denken, wo beschrieben wird wie Teresa auf dem Aussichtsturm steht und ihr schwindelig ist. Milan Kundera schreibt: „Schwindel ist nicht die Angst vor der Höhe, sondern der Wunsch sich fallen zu lassen.“ Tatsächlich verspüre ich diesen Wunsch. Meine Füße fangen an zu kribbeln, haben den Drang auf die Gleise zuzulaufen. Es wäre so einfach. Der nächste Zug fährt sicher gleich durch. Laufe vor bis zur Kante. Ein Schritt, dann ist alles vorbei. Es wäre aber auch so einfach zu leben, wenn ich in dieser Welt nur eine andere Farbe, außer grau, finden könnte. Irgendein Hoffnungsschimmer. Der Mann vor mir dreht sich um und ich lese das Wort „stirb“. Ich schließe die Augen für einen Moment. Als ich sie öffne wird mir klar, dass ich zwar „shine“ gelesen habe, dass es aber nicht das Japanische Wort „shine“ ist. Es ist auch in lateinischen Buchstaben und nicht in Kanji geschrieben. Der Mann trägt ein Rolling-Stones-T-Shirt mit dem Aufdruck „Shine A Light“. Mich überkommt ein kalter Schauer bei dem Gedanken, dass ein Englisches Wort, dass etwas schönes bezeichnen soll, genauso geschrieben wird wie die Imperativ-Form des Japanischen Verbs „sterben“. Die Anweisung zu glänzen, zu strahlen, zu leuchten und gleichzeitig auch ein Todesbefehl. Ich beschließe, dass es besser ist auf andere Gedanken zu kommen und mir fällt die Kneipe gegenüber meines Büros ein. Ich werde wohl noch in Shibuya bleiben. Ästhetisch kann Tokio sicher nicht mit New York oder Paris mithalten, doch diese Weltmetropole ist viel sauberer und es gibt weniger Müll, wodurch sie aber noch unmenschlicher wird als ihre beiden Schwestern und auch hier benutzt man Alkohol um zu verdrängen. In der Kneipe trinke ich warmen Sake und rufe Toma an, weil ich mich allein fühle. Ich will mit ihm schlafen, doch aus anderen Gründen als sonst. Ich vermisse meinen Freund nicht wegen irgendeiner seiner Eigenschaften. Ich will nur dieses verfluchte Wort aus meinem Kopf bekommen. Shine. Die Englische Bedeutung ist verschwunden. Sogar die lateinischen Lettern. Vor meinem inneren Auge sehe ich nur noch einen, in Kanji geschriebenen, Befehl zur Selbstauslöschung. Ich will diesen Gedanken loswerden. Vielleicht ist alles besser wenn ich Toma spüre. Vielleicht denke ich dann wieder: „Das hier ist schön. Ich habe etwas im Leben das schön ist.“ Aber wahrscheinlich hilft Ficken nicht, denn das mit dem Sex ist wie mit dem Alkohol und den Drogen. Man ist kurzzeitig betäubt, aber dann wird alles schlimmer. Toma geht immer noch nicht ran und ich bin kurz davor aufzulegen. Doch dann wird mir klar, dass ich, wenn ich heute noch einmal zum Bahnhof gehe, diesen einen Schritt gehen werde. Wenn der Zug mich erfasst, werden sich meine Füße vom Boden lösen und in meiner letzten Sekunde wird es sich anfühlen wie Fliegen. Es wird zu ende sein bevor ich den Schmerz spüre. So male ich es mir zumindest aus. Doch dann denke ich daran wie ich als kleines Mädchen, ohne eine Ahnung von Leben und Tod, das Zirpen einer Zikade mit meinem Handrücken für immer verstummen ließ. Als ich meine Hand wegzog, war ein Großteil der Zikade nur noch Matsch, aber irgendwie hatte ich es nicht geschafft ihren Kopf zu zerquetschen und sie lebte noch, bewegte ihn, zappelte auch mit dem einen Bein, das nicht an meinem Handrücken klebte. Wird es wirklich schmerzlos sein? Endlich nimmt Toma, den Anruf entgegen. „Wer ist da?“ „Ich bin es, Naoko. Deine Freundin.“ „Achso. Was kann ich für dich tun?“ Ich zögere kurz, überlege ob ich ihm sagen soll, dass ich mit dem Gedanken spiele vor einen Zug zu springen und es auch tun werde, wenn er mich in den nächsten zehn Minuten nicht abholt, doch ich überlege es mir anders und sage: „Ich bin gerade mit der Arbeit fertig und hab mir überlegt heute Nacht in Shibuya zu bleiben, weil du mir fehlst.“ Dabei versuche ich, die Worte „weil du mir fehlst“ so klingen zu lassen, dass er das darin versteckte „Lass uns ficken!“ nicht überhören kann. Dazu wird er nicht „Nein“ sagen, denn er muss ständig zu irgendwelchen Konferenzen fahren, oft sogar ins Ausland. Unser letztes Mal ist bestimmt einen Monat her. „Tut mir leid. Ich bin momentan geschäftlich in Osaka. Ich komme erst morgen wieder.“ „Davon hast du gar nichts gesagt.“ Ein kurzer Moment der Stille, dann: „Ich habs vergessen.“ Wie um etwas wieder gut zu machen, sagt