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einem Raum im Gebäude
gegenüber zu Mittag isst, ich werde hungrig.
Gott ist zerstreut heute, vergisst seine Spielsachen
und seine rote Mütze in den Fluren und Sandkästen.
Hört man das knistern des Straßensandes da unten?
Der Frühlingssand erweckt mich immer zum Leben.
Und: ich spüre, wie das schlichteste Licht
durch diese Zeilen strömt!
27. Februar 2021
Das Buch viel aus den Händen, als ich in der Sonne las.
Fatigue, die große Müdigkeit, liegt über mir.
Aber ich falle weich in das hohe Sommergras.
Kinder spielen mit einem Hund hier irgendwo.
Ihr Lachen flieht durch die Jahre und dem Grün.
Schwalben fliegen im Sturzflug und streifen mich.
Die Sommer, versteckt in dir, ermüden nie.
28. Februar 2021
Habe ich eine neue Eiterbeule im Enddarm?
Nimm einen Tag nach dem anderen.
Nimm eine Woche nach der anderen.
Nimm einen Monat nach dem anderen.
Nimm ein Jahr nach dem anderen.
Nimm ein Leben nach dem anderen.
Dann wird sie von den Chirurgen aufgeschnitten,
und man kann wieder sitzen im Leben!
1. März 2021
Ich lebe ein stilles Leben hier beim Hematologen.
Man fährt mich rund in der Nacht und betäubt mich
in stark beleuchteten Sälen, aber so ist es nun einmal.
Ich schleppe den Infusionsständer mit mir, schlucke
meine Medizin. Aber Karen, Camilla, Naima und
alle anderen Schwestern sind die Freundlichkeit
und Kompetenz selbst, obwohl ich ihre Gesichter
hinter Maske und Visier nie gesehen habe.
Lawrence Ferlingetthi ist gestorben, 101 Jahre alt.
Er war das Gehirn hinter den Poeten, die ich liebte,
besonders Gary Snyder, der Buddhist,
Zivilisationskritiker und der wahre Arbeiterpoet
in den Wäldern von Oregon.
Seit fünfzehn Tagen war ich nicht mehr außer Haus.
Aber die Sonne malt Mondrianbilder in den
Krankenhausfenstern, und der Frühling erreicht mich
in der Stimme meiner Frau.
(Lawrence Ferlinghetti war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Dichter.
Piet Mondrian war ein niederländischer Maler der klassischen Moderne.)
2. März 2021
Entbindungs- und Krebsabteilung
gegenüber voneinander.
So hat die Welt es eingerichtet!
Einige taumeln hinaus,
andere gehen auf Wolken
mit einem Kind im Arm.
Es ist dennoch schön.
Leben und Tod vereint auf einer Straße.
3. März 2021
Eine Stunde in der Sonne.
Ein mühseliger Spaziergang.
Ich sehe Menschen und bin erstaunt.
Esse einen wunderbaren Hamburger.
Ein Zipfel vom normalen Leben.
Und ich darf mit meinem geliebten Hund sein,
ich hatte Angst, dass er mich vergessen hatte.
4. März 2021
Ein guter Tag!
Schlief etwas besser!
Träumte von einem sterbenden Baum,
dem Moos und Flechte
ein Sterbekleid gab!
Sah die Sonne am Morgen!
Schwankte, als ich durch das Licht ging, ja,
aber eher als ein Baum im Frühlingswind!
5. März 2021
Ein guter Tag!
Schlief etwas besser!
Träumte von einem sterbenden Baum,
dem Moos und Flechte
ein Sterbekleid gab!
Sah die Sonne am Morgen!
Schwankte, als ich durch das Licht ging, ja,
aber eher als ein Baum im Frühlingswind!
6. März 2021
Die große Müdigkeit kam über mich.
Man nennt sie La fatigue. Ich nehme ab,
aber der Körper fühlt sich viel schwerer an.
Sehe, dass die Katze plötzlich von der
Sofakante zur Sesselkante springt, und die
Seele folgt träumerisch dem lautlosen Sprung.
Verwandelt dich, in tiefer Illusion, in eine Katze!
7 März 2021
Ich will mich bedanken für alle
Briefe, Kommentare und
Genesungswünsche, die ich erhielt.
Sie wärmen, und ich sende sie
telepathisch weiter an alle in dieser Welt,
die diese Krankheit haben.
Jeder Gruß ist ein Gruß an alle.
Der Mensch ist, wenn alles zusammenkommt,
seine Grußworte an andere Menschen.
8. März 2021
Die Leere in den Tagen der Endlosigkeit.
Ich starre auf die sinnvolle Sonne.
Das Leben in einem Gewirr von Tagen, Nächten.
Klage lauthals über des Horizontes Flucht.
Zur Erde will ich nun, mit eifrigen Händen.
Unter dem Himmel bin ich leer, entleert.
Die Schwester kommt mit einem Lächeln.
9. März 2021
Januar ist vergangen.
Februar ebenso.
Ich bin ein Stück weit im März.
Es bleiben noch April, Mai, Juni
bis die Behandlungen abgeschlossen sind.
Die Zeit - mein Feind.
Wenn ich nur die zeitlose Zeit
in all diesen Tagen finden könnte.
Ich suche sie, finde sie manchmal,
und ein Tag, eine Woche ist vergangen.
10. März 2021
Gehe drei Runden durch die Korridore.
Corona hat sie menschenleer gemacht.
Die Bilder schauen nachdenklich auf mich.
Ich sehe die zeitlose Zeit in den Pinselstrichen.
Paradiese, herausgeschnitten aus unbekannten Höllen.
Gehe mit stärkeren Schritten heut Nacht.
Ja, ich glaube, es gibt eine unsichtbare Macht,
die uns alle zusammenhält in dieser Zersplitterung.
Das stattfindende Leben wäre sonst unbegreiflich.
Am Morgen wirbelt Schnee.
11. März 2021
Nun habe ich verstanden, wie meine Oma,
Schwester Alma,
ihren Henning traf.
Mein Opa Henning machte Wehrpflicht
in Ryssby, Småland,
weit weg von der Knechtarbeit in Vingåker.
Ich sehe sie dort gehen in der Jahrhundertwende,
zwei wache Junge in einer erwachenden Nation.
Deren Pläne erreichen mich.
Ich zucke zusammen vor Optimismus.
Lächele im Krankenbett.
(Ryssby ist ein Ort in der schwedischen Provinz Småland.
Vingåker ist ein Ort in der schwedischen Provinz Södermanland.)
12. März 2021
In der Dämmerung bekommt Gott seine Gesichtszüge.
Aber zeichnen musst du sie selbst,
flüstert der Mystiker geheimnisvoll an deiner Seite.
Der Mystiker? Das ist die unsichtbare Gestalt, der
Krankenhäuser, Unterkünfte, Warteräume besucht.
Oder auch über eine sonnige Straße eilt.
Diese Gestalt zählt keinem die Tage.
13. März 2021
Gefrorene Tage, tiefe Tage.
Die Sonne kommt nicht an gegen den Himmel.
Der Körper wirft Anker in ein Sofa.
Und wo ist dieser tiefsinnige Mystiker,
der mir sein Hiersein versprach?
Er friert wohl auch und versteckt sich
unter seiner mittelalterlichen Decke.
Aber es ist gut für die Gesundheit, manchmal
etwas sauer und wütend zu werden.
Das Heilige macht oft niemanden froh.
14. März 2021
Ein Sonntag fällt gegen die Dämmerung.
Der Lenz ein Windbruch in der Brust.
Schlief ein nach kurzem Stolperspaziergang.
Das graue Tageslicht war eine Lehmflut.
Sprach dennoch froh mit den Leuten, die ich traf.
Etwas zeitlose Zeit fand ich in der Zeit:
Die offenen, leuchtenden Gesichter der Jetztzeit.
15. März 2021
Vögel auf den Schornsteinen.
Vögel in Bäumen.
Vögel auf Grabsteinen.
Vögel im Himmel und auf der Erde.
Vögel, die sich auf meine Schultern setzen,
wenn ich müde bin.
Vögel, die mit einem knospenden Ast
zurück in meine Arche fliegen.
Wir vergessen, wie viel wir
mit Vögel zusammen sind.
17. März 2021
Stille an einem Nachmittag.
Sie ist schön und unberührbar.
Habe nie so eine tiefe Stille gehört.
Schaue mich um, um sie zu lokalisieren.
Verstehe bald, dass sie aus mir selbst strömt.
Schlafe ein und treibe mit dem Fluss,
der in der Sonne glitzert.
18. März 2021
Es schneit plötzlich.
Es schneit so leicht.
Es sind des Frühlings erste
flatternde Schmetterlinge.
Ihr kurzes Leben verlängert meins.
19. März 2021
War draußen in der Sonne.
Die Kälte ging neben mir.
Aber der Tag hatte etwas Gewöhnliches an sich.
Vorjahreslaub, Busse, Lächeln über eine Straße.
Liebe mehr denn je alles Gewöhnliche.
Das Gewöhnliche sucht keinen Streit über alles.
Es trägt die Welt durch all die Unruhe.
20. März 2021
Nach einer schlaflosen Nacht zieht es mich
hin und her zwischen Graulicht am Fenster
und den Katakomben das Traumes.
Das Kortison wirkt wohl wie Kokain.
Aber ich hatte immer Angst vor Schlaftabletten.
Sah vier alte Star-Trek-Filme in der Nacht.
In einem wurde ein Mann schwanger.
Dann kommt meine Tochter, sie hat Geburtstag.
Sie sitzt coronasicher auf dem Balkon,
Meine Frau
© Willi Grigor, 2021
Übersetzung der "Tagesform-Gedichte" des schwedischen Dichters Göran Greider.
Kommentare
So hervorragend übersetzt, dass ich meine, die Texte seien in deutscher Sprache geschrieben; meinen großen Respekt vor dieser Leistung. Die hoch poetischen Tagesgedichte dieses so schwer erkrankten „politischen Debattierers, der sich Sozialist nennt“ – berühren und trösten nicht nur Kranke. Herzlichen Dank, dass Du mich daran teilnehmen lässt, lieber Willi.
Marie
Ich danke Göran Greider, diesen besonderen Menschen, dass er mich seine Texte übersetzen lässt. Sein Deutsch ist übrigens gut.
Und dann danke ich Dir, Marie, dass Du Dich so positiv ausdrücken kannst. Das ist auch eine Kunst, die Du beherrschst.
Freundliche Grüße
Willi
Die Kraft, die in den Worten steckt -
Sie zeigtest Du uns hier - perfekt!
LG Axel
Wenn der Originaltext so gut ist, dass man ihn unbedingt übersetzen will, dann kommen einem auch die notwendigen Worte entgegen.
Und Göran Greider macht jeden Tag ein kurzes, aber gutes Gedicht, das er dann sofort über die Medien unter das Volk schickt. Er hat noch mindestens einen Monat vor sich, bevor er weiß, ob er weiterleben kann oder nicht. Der Mann ist ein Phänomen, nicht nur als Dichter.
LG
Willi
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