Man rettet sich in Erinnerungen - Page 5

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von Willi Grigor

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Vogel,
und dass ich mich nicht nach ihm strecke.
Ich könnte ihn verletzen,
wenn ich ihn fangen würde.
Von dem verborgenen Aussichtspunkt
des Mutlosen: Zwei Augen, die sich wundern.

12. April 2021

Meine Fingerspitzen sind fast gefühllos.
Ich berühre die Welt und sie antwortet nicht.
Fingerspitzen - sonst die sensibelsten
Oberflächenfühler von Dingen!
Meine Fingerspitzen, die nie etwas gesagt
haben, sind verwunderlich stumm.
Fiel in den Schlaf und träumte von
Fingerspitzen, die alles berührten, was ich
liebe - und alles was ich liebe, antwortete.

13. April 2021

Nachtwandere vorbei an welkenden Weidenröschen,
Erinnerungen an Wälder, die verschwanden,
und einsame Katen überwinterten in der Kälte.
Ich sehe ein rätselhaftes Mädchen mit einem Pferd.
Das ist das Fenster des Traumes in den öden
Korridoren des Krankenhauses,
die Bilder an den Wänden, wo die Pandemie uns
Patienten in heimlichen Räumen versteckt.
Die Krankenschwestern lächeln hinter Visier
und Mundschutz. Mein Infusionsständer
pfeift fast humoristisch.
Ich gehe und gehe und gehe in der Nacht
mit den Schritten eines zitternden Minutenzeigers.

14. April 2021

In einen Krankenwagen getragen zu werden,
ist ein absonderliches Gefühl.
Die Straße zeichnet sich vor dir ab,
sowie die Wipfel der Bäume.
Dann alle Winkel der Stadt.

Aber bist du mental okay, können
sich spannende Gespräche entwickeln, z. B.
über die Privatisierung von Ambulanzen,
oder über das Café String vor langer Zeit.
Eine wachsende Bakterie im Blut
hat mich durch die Straßen geführt.

(Café String war ein beliebtes Café in Stockholm.)

15. April 2021

Die Dämmerung
sammelt sich zum Sprung
hinter dem weiten Blau des Himmels.
Stelle mir sie vor als ein Raubtier
und meine Psyche als dessen Beute.
Der große Krankenhauskomplex
liegt nie verlassen.
Aber das Blut bekommt langsam
eine gruseligere Farbe.
Die Seele soll als Mond aufsteigen.

16. April 2021

Zwei blaubehandschuhte
Hände, hochgestreckt auf Brusthöhe.
Die universelle Operationsgeste.
Sie gleicht einer Blume mit V-Zeichen.
Der Arzt holt den langen
Venenkatheterschlauch aus der Brust,
der von Bakterien bewohnt ist.
Ich habe ein Tuch über dem Kopf.
Das Beatles-Album Anthology spielt.
Alle lieben diese optimistische Musik.
Die Sonne scheint in das Krankenzimmer Nr. 4.

17. April 2021

Ich schlief im Frühling.
Ich gähnte, und vielleicht flog
eine Hummel in meinen Mund und
wieder hinaus, ohne dass ich es merkte.
Ich sah die Katze neben meiner Tochter
im Gras spielen.
Der Arzt rief mich an, wollte nur
fragen, ob ich Fieber hatte.
Es war ein Samstag im April.
Ich war müde, aber recht so glücklich.

18. April 2021

Wenn man seinen Fuß
in einem Monat
kaum in das Freie gesetzt hat,
sind des Frühlings Blumen
eine Offenbarung.
Der Sinn des Lebens
ist das Vergehen,
aber er lässt uns bei sich
eine Weile.

19. April 2021

Die Ärzte ändern die Behandlung
zu einer weniger giftigen.
Zu viele Infektionen.
Ärger mit den Blutgerinnseln.
Etwas mildere Gifte ab jetzt.
Ich weiß nicht, was das bedeutet.
Aber ich lege meinen Körper gefasst
in die Hände von denen, die wissen warum.
Der Mystiker sitzt am Fenster
und lauscht den Vögeln des Frühlings.

20. April 2021

Mit einem Buschwindröschen
kommt sie heim, meine Frau.
Es leuchtete auf die Müdigkeit.
Ewig wird es nicht leben,
aber es trug
die Ewigheiten aller Frühlinge.

21. April 2021

Kindheit und Krankheit.
Zwei Urteile fielen.
Von dem ersten werde ich nie befreit,
das andere werde ich überstehen.
Die Kindheit hast du mit dir ein Leben lang,
lange nachdem du freigelassen wurdest.
Und viel Licht strömt aus ihr.

Aber sie gehören zusammen,
die zwei Urteile.
Schwäche ruft Erinnerung hervor.
Die Seele hört auf deinen Körper.

22. April 2021

Es schneite, als ich heute Morgen in das
Krankenhaus kam zwecks neuer Zellgifte.
Lag im Bett und dachte über das Wort nach, das
in der letzten Zeit mir so nah kam: Schwäche.
Sie einzugestehen, ohne aufzugeben. Zu sehen,
wie die Schwäche meinen Nächsten zusetzt,
und nicht zuzulassen, dass die manchmal
aufflammende Klage meiner eigenen Schwäche
sie in Mitleidenschaft bringt. Dass dies manchmal
nicht gelingt. Einzusehen, dass die Schwäche die
Grundlage für ein solidarisches Handeln ist:
Unsere Schwäche hat uns gezwungen,
Stärke in der Gemeinschaft zu suchen.

Am späten Nachmittag war der Schnee
verschwunden.
Meine Frau holte mich mit dem Auto ab,
mit aufmontierten Sommerreifen.

23. April 2021

Die Kohlmeise auf ihrem grünen Zweig
leistet mir heute Gesellschaft.
Spähend nach Futter und einem Partner.
Liege in der Müdigkeit und sehe
sie landen und weiterflattern.
Sie ist heute der Sinn meines Lebens,
und dieser Sinn ist ausreichend.

24. April 2021

Ein schlechter Tag, gewiss.
Der Himmel schwankte, der Boden bewegte sich.
Ich war irritiert und reizbar.
Mein Körper war nie so nah bei mir.
Hallo! Mein Körper!
Schön, dich zu haben und dich kennenzulernen!
Du bist doch mein Band zu den
anderen Menschen und zu dieser Erde.
Ich nehme deine Hand und du meine.

25. April 2021

Ging in Pyamahosen raus mit dem Hund,
bin der neue Hiphopper im Viertel.
Die Pyamahosen leuchteten in der Dämmerung.
Der Wind blies kalt auf die Beine.
Schaffte es nicht, mich umzuziehen.
Eine frohe und stille, kleine Revolte.
Nur eine Drossel zwitscherte etwas empört.

26. April 2021

Ein Himmelskörper
tropft hinunter in den Abendhimmel
und mein Blutzucker rast.
Wackle schwindlig mit dem Hund nachhaus
zu einer Spritze Insulin.
Ein Tropfen in meines
Körpers Abendhimmel.

27. April 2021

Menschen auf einer Straße.
Sonne auf einer Hauswand.
Die Amsel auf dem Boden.
Das einfache Leben.
Alles, was ich aufschob, ist bedeutungslos.
Das Wichtige trage ich mit mir.

28. April 2021

Stolpere im Frühling.
Finde ein Katzenhalsband auf einem
Zweig, vielleicht von unserer Katze,
nehme es mit nachhause, aber
meine Frau sagt - du hast
das Halsband aufgehängt.
Aber die Katze schnuppert neugierig an ihm!
Labyrinthe des Alltagslebens.

29. April 2021

Auch im grauen Licht
knospet der Frühling.
Der Mystiker ist durchsichtig
in dem schwachen Licht.
Ich blute leicht.
Und die Katze streift durch die Hauptreviere.

30. April 2021

Mental beweglich zu sein,
aber keine fünfzig Meter schaffen,
ist, als wäre man gespalten
zwischen Körper und Seele!
Der Körper ist ja ein Mysterium,
ebenso groß wie die Seele.
Aber wer von den beiden
trägt den anderen?

1. Mai 2021

Die Schmerzen heute am 1. Mai
übersetze ich so gut es geht
in Weltschmerzen.
Es glückt einigermaßen.
Der Körper ist grimmig,
ich wurde vorhin gemein,
aber eine rote Fahne
flattert über mir.
Und ich reiße mich zusammen.

2. Mai 2021

"Im wunderschönen Monat Mai."
Höre an diesem Sonntag Schumanns
alte Lied mit den Worten von Heine.
In einer Deutschlektion im Gymnasium
hielt ich einen stolpernden Vortrag
über Heine und Schumann.
Die offene Balkontür steht hin
zum heller werdenden Grün.
Dann schlafe ich ein, leicht fiebrig.
Träume vom Monat Mai.
Musik knospet in mir.
Sehe alle Klassenkameraden vor mir.

3. Mai 2021

Nun habe ich bald Blut von
zwei anderen Menschen in mir.
Wer sind diese?
Welche Namen haben sie?
Was dachten sie, als sie die
Blutspendezentrale verließen?
War es Winter? Frühling?
Zwei Beutel Blut tropfen in mich hinein.
Zwei unbekannte Blutspender
sollen mich beweglicher machen.
Ich schaffte es kaum
ins Krankenhaus hinein.
Ich danke den Spendern.

4. Mai 2021

Man sagte mir nun, dass der Blutspender eine
SMS erhält, wenn ein Patient das Blut bekam.
Ich wusste dies nicht. Zwei Menschen erhielten
nun eine SMS, versehen mit meiner Dankbarkeit.
Im Übrigen warte ich mit Sehnsucht auf den Tag,
wenn alle Springbrunnen wieder springen.
Ihr Wohlklang klingt, wie wenn der heilige
Franziskus für die kleinen Vögel predigt.

5. Mai 2021

Schlaf.
Schlafe ein am hellen Vormittag.
Schlafe ein mitten in einem Satz.
Das letzte was ich höre:

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© Willi Grigor, 2021
Übersetzung der "Tagesform-Gedichte" des schwedischen Dichters Göran Greider.

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