Marlene

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von Lara Preis

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Am Anfang waren wir alle noch eng beieinander, winzige Wassertröpfchen in himmelsnahen Gebilden, die bereits seit Urzeiten den Namen „Wolken“ tragen. Doch dann kam der Abschied, das Loslösen aus dem gleichberechtigten Kollektiv, ein Fallenlassen in die ungewisse Zukunft. Der größte Teil von uns erreichte den Erdboden, ohne sich äußerlich wirklich zu verändern, wobei Wind und Temperatur die Intensität des Aufkommens beeinflussten. Andere jedoch schlugen förmlich ein, hinterließen in eisighartem Gewand Spuren, auch Schmerz, manchmal sogar tiefe Verletzungen. Sanftmütig landete schließlich die letzte Gruppe. Jene, bestehend aus wunderschönen Kristallen, wie winzige Federn einschwebend, nach und nach den Grund bedeckend. Sie verwandelten selbst ödeste Landschaften in leuchtendes Weiß, funkelten mancherorts sogar wie kostbare Diamanten …
Marlene war definitiv ein solcher „Edelstein“, um einmal kurz bei diesem poetischen Bild über Formen des natürlichen Niederschlags zu bleiben.
So manche grauen Tage wie heute erinnern mich ungebeten an den Gemütszustand, der bis zu unserem Kennenlernen allzu oft meinen Alltag wie unter einem über mich abgelegten bleiernen Tuch erscheinen ließ …

„Ich weiß nicht ...“
Beide Teenager standen vor dem alten freistehenden Haus. Weit und breit waren lediglich Bäume, Felder, Wiesen zu sehen ... Dinge, die man eher auf dem platten Land vermuten würde.
„Soll ich da jetzt einfach klingeln und nach ihr fragen, oder wie?! Um diese Zeit?!“
„Einundzwanzig Uhr ist schon noch OK.“
Eigentlich kannte Jaron diesen Typen ja nur aus einem Onlineforum.
„Mach was du willst, ich hau jetzt ab!“
Lennox schlurfte in Richtung abgestelltes Fahrrad, etwa zehn Meter von dem Ort ihrer Unterhaltung entfernt, stieg auf und fuhr gemütlich durch die Dunkelheit davon. Sein Rücklicht wurde zu einem immer kleiner werdenden Punkt, bis es sich in Luft aufzulösen schien. Nun gut, den letzten Schritt musste Jaron wohl offensichtlich allein wagen.
Eher schmückend als schützend wirkte der niedrige Zaun, eine Grundstücksgrenze aus kunstvoll gefertigtem Metall, dahinter leicht verwilderte, aber ausreichend beleuchtete Vorgartenidylle. Da kein Törchen vorhanden war, gelangte man barrierefrei über Natursteinplatten zum Eingang. Massives Holz, versehen mit einem auffälligen Messingknauf, unmittelbar neben dem Türrahmen, modernste Technik.
„Du drückst gerade auf der Kamera herum!“
Wie elektrisiert zog Jaron seine Hand zurück. Er musste wohl mittels Bewegungsmelder einen Impuls ausgelöst haben, der wiederum den Hausbewohnern sein unangemeldetes Kommen ankündigte.
„Äh … sorry …“
„Wer bist du und was fällt dir ein, uns so spät noch zu stören?!“
Flucht oder Kampf? Egal wie die Entscheidung ausfallen würde, sie war seinen natürlichen Instinkten geschuldet.
„Ist Ihre … äh … ist Marlene zu sprechen?“
Statt einer Antwort folgte Stille. Schließlich öffnete sich im ersten Stock ein Fenster. Niemand war zu sehen, doch immerhin wurde es hell in dem dazugehörigen Raum, was ihn optimistisch stimmte.
„Einen Moment bitte!“
Die Stimme stammte definitiv von einer eher jüngeren Frau und schien Jaron gewidmet. Weniger gut konnte man hier unten dem anschließenden Gespräch folgen, das von tiefen männlichen Tönen dominiert wurde. Vielleicht diskutierten dort oben gerade Vater und Tochter mit kontroversen Meinungen.
„Jetzt lass ihn schon rein!“
Es folgte lautes, immer näherkommendes Poltern, Öffnungsgeräusche, verursacht von einem Schlüssel … Beeindruckend dieser Mensch, schätzungsweise Anfang fünfzig, relativ klein, aber dafür breit genug, um einen großen Teil des Türrahmens auszufüllen.
„Wenn es nach mir ginge, dann …“
„Ich bin kein Kind mehr und du legst dich doch eh nicht vor Mitternacht ins Bett! Außerdem ist morgen Samstag!“
Der Mann wirkte in diesem Moment zwar sehr zornig, machte allerdings kommentarlos den Weg frei. Schweigend trat Jaron ein, direkt auf die vor ihm liegende Treppe zugehend, deren oberes Ende von einem Rollstuhl versperrt wurde.
„Ich hätte dir ja gerne selbst geöffnet, aber leider ist der Lift defekt!“
Seine Blicke wanderten prüfend an der Wand entlang hinauf, wo eine entsprechende Schiene angebracht war, allerdings fehlte das Wichtigste, die Sitzvorrichtung.
„Hi Marlene … mein Name ist Jaron und …!“
„Na komm schon hoch, mir ist das hier gerade zu öffentlich!“
Zeitgleich schloss sich hinter ihm unsanft die Haustür, dicht gefolgt von lautem Stampfen des fluchenden Verursachers, der eine Räumlichkeit im Erdgeschoss ansteuerte, offensichtlich als Rückzugsort.
Über einiges hatte Jaron bereits im Vorfeld nachgedacht, sogar konkrete Bilder ihres Aussehens erschienen seit Tagen vor seinem geistigen Auge, doch mit einer körperlichen Behinderung war nun wirklich nicht zu rechnen gewesen. Verschwieg Lennox absichtlich Marlenes Handicap oder gab er etwa nur vor die junge Frau persönlich zu kennen?
„Warte, ich fahr mal ein wenig dort rüber.“
Schnell glitt der Rollstuhl zur Seite und die letzte Treppenstufe konnte somit von dem Besucher überschritten werden. Er hockte sich instinktiv hin, ihr direkt gegenüber auf Augenhöhe.
„Das musst du wirklich nicht ...“
Marlene streckte ihm die linke Hand entgegen und wartete offensichtlich auf eine angemessene Reaktion.
„Dein Ernst?!“
Die besagte Hand zeigte jetzt mit dem Rücken nach oben, darauf wartend, andeutungsweise geküsst zu werden. Gepflegte Fingernägel, dank dezentem Klarlack aufgehübscht, gerieten derweil schnell in den Fokus des Betrachters. Schmuck suchte man an dieser Körperstelle vergeblich, was durch silberne Ohrstecker in Form von Davidsternen und einer nostalgisch anmutenden Perlenhalskette ausgeglichen wurde. Keine Bänder oder Ringe, nicht mal eine Uhr … Auch der rechte Arm war frei von Geschmeide.
Als sehr schlank bot sich ihr Körper dar, worüber selbst ein zu weit geschnittener Pullover nicht hinwegtäuschen konnte. Die weiblichen Rundungen oberhalb der Taille schienen gut bis üppig ausgeprägt zu sein.
„Ihr Männer seid doch wirklich alle gleich!“
Beim Herunterbeugen musste Jaron wohl zu lange in Richtung Oberweite geschaut haben. Auf jeden Fall zog Marlene reflexartig ihre Hand zurück und brachte den Rollstuhl in Bewegung.
„Sorry …“
„Schon OK … Übrigens, der Reißverschluss an deiner Hose ist offen ...“
Schnell wurde sich von ihr abgewendet, um die Unannehmlichkeit zu beseitigen.
„Reingefallen!“
Etwas speziell schien diese Frau ja schon zu sein, aber immerhin humorvoll.
Im gebührenden Abstand folgte er ihr über den gefliesten Flur, bis die kurze Führung in einem Raum mit hellem Laminatboden endete. Nach entsprechender Aufforderung schloss der Gast die Tür und setzte sich auf ein direkt an der Wand positioniertes rotes Sofa.
„Wenn du Durst hast, die Küche ist unten, direkt neben dem Eingang. Bedien dich dort einfach, denn mein Vater dürfte uns heute Abend nicht mehr zur Verfügung stehen.“
Jaron winkte dankend ab. Der Rollstuhl stand ihm mittlerweile direkt gegenüber und er schaute auf ungefähr gleicher Höhe in ein dezent geschminktes Augenpaar. Zwei tiefe klare Seen, in denen sich ein imaginärer unbewölkter Himmel zu spiegeln schien. Im Zentrum der

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