Marlene - Page 4

Bild von Maik Kühn
Bibliothek

Seiten

Gesichtsmimik nicht immer unter Kontrolle.
„In welcher Gegend sind wir hier eigentlich?“
„Spielt das etwa eine Rolle? Hauptsache, du stehst nicht mehr länger auf der Speisekarte wilder Tiere!“
Schon beeindruckend, was Xander alles mit sich führte. OK, die lange braune Lederhose war Jaron etwas zu weit, aber immerhin eine bessere Alternative zum aktuellen Outfit. Dazu ein gleichfarbiges T-Shirt ohne Aufdruck oder sonstige Verzierungen. Kleidungstechnisch hätten die beiden ab diesem Zeitpunkt wirklich Zwillinge sein können. Unter Männern ist so etwas allerdings nicht unbedingt angesagt.
„Los, steig auf, ich nehme dich erst einmal mit!“
„Wohin?!“
„Zur nächsten Siedlung oder möchtest du lieber allein zurückbleiben?“
Schweigend ließ er sich in den Sattel helfen. Xander nahm direkt vor ihm Platz und beide ritten nach anfänglicher Gemächlichkeit im Eiltempo davon. Wirklich monoton diese Landschaft, von weiteren Menschen, geschweige denn Tieren, nach wie vor nichts zu sehen. Somit schien der Speisekartenverweis wohl eher in die Rubrik „Märchen“ einsortiert zu gehören.
Nach gefühlten hundert Kilometern dann erste Andeutungen einer Zivilisation. Jaron wurde nicht enttäuscht, denn gleich mehrere Häuser befanden sich am Ziel ihres Ritts. Freilichtbühne, Filmkulisse oder originalgetreuer Nachbau? Egal, aber das Ganze hätte auf jeden Fall Bestandteil eines Western sein können.
„Endstation!“
Beim Absteigen wäre er beinahe gestürzt, doch auch dieses Mal stand ihm sein Retter zur Seite.
„Ich muss dort in den Laden. Warte, es dauert wirklich nicht lange und dann lade ich dich zu einem Drink ein.“
Sehr witzig, wohin sollte Jaron denn auch gehen? Maximal zehn Holzhäuser, plus Saloon, plus Geschäft … keine Fahrzeuge, kein Bahnhof, keine Schienen, nichts …
Von wegen „nicht lange“ ... Er verlor die Geduld und sah sich um. Xander hatte sein Pferd offensichtlich gut im Griff oder einfach vergessen anzubinden. Vor der Kneipe gab es nämlich mehrere entsprechende Möglichkeiten.
„Wanted!“
Das Plakat hing direkt neben dem aus einer Schwingtür bestehenden Eingang.
„5.000 für den Skalp dieses Mannes!“
Keine Währungsangabe, was den Schock jedoch nicht abmilderte. Zugegeben, die Zeichnung schmeichelte ihm, aber dummerweise erkannte man Jaron recht deutlich, außerdem stand sein Name unmittelbar daruntergeschrieben.
„Bitte nicht …“
Jene Angst zu sterben, weswegen er ja ursprünglich Marlene zu Hause aufgesucht hatte, jene Angst war ab sofort nicht mehr länger unbegründet. Herzrasen, Schweißausbruch, Zittern am ganzen Körper … Kampf oder Flucht? Hektisch wurde versucht das auf Papier gedruckte Todesurteil zu entfernen, doch der Klebstoff gab nicht nach.
„Ach, wen haben wir denn da?!“
Just in diesem Moment kam ein betrunkener Gast aus dem Saloon, gekleidet wie John Wayne, mit einem Revolver im entsprechenden Holster steckend. Plakate verfehlten leider auch hier nicht ihr Ziel, denn ohne Vorwarnung zog der Mann die Waffe und feuerte einen Schuss ab.
„Schnell, komm zu mir hoch!“
Jaron verstand nicht wie ihm geschah. Sein selbst ernannter Gegner lag scheinbar ohnmächtig auf den Holzdielen, direkt unterhalb des Fensters, von wo aus die junge Frau kurz zuvor einen harten Gegenstand fallen gelassen hatte. Blut war allerdings nicht zu sehen, auch von dem Geschoss fehlte jegliche Spur.
„Beeil dich!!!“
Planlos rannte er in den Saloon. Am hinteren Ende befand sich eine Wendeltreppe, die ins obere Stockwerk führte. Wirt samt seinen fünf Gästen schienen bisher nichts mitbekommen zu haben oder aber sahen keinen Anlass zu reagieren, begleiteten jedoch interessiert den Weg des jungen Eindringlings mit kritischen Blicken.
„Schnell, komm rein!“
Sie stand an der Schwelle einer geöffneten Zimmertür, wartete bis Jaron den Raum betrat und schloss dann von innen ab. Auch diese Person mit ihrem Outfit aus dem 19. Jahrhundert passte bestens zu allem anderen hier, wie ein entsprechendes Puzzleteil. Brav frisiert, die mittellangen Haare im welligem Dunkelblond.
„Marlene!?“
Aufgrund der noch nicht weit genug zurückliegenden lebensbedrohlichen Situation, nahm sich sein Gehirn erst mit deutlicher Verzögerung Zeit für den entsprechenden Datenabgleich, doch das Ergebnis schien unanfechtbar.
„Du kannst … Du brauchst gar keinen Rollstuhl mehr?!“
„Kennen wir uns?“
Sie hieß tatsächlich Marlene und auch das Aussehen … Zwillinge? Nein, selbst wenn, man gab doch in einem solchen Fall nicht beiden Kindern den gleichen Namen.
„Was ist denn das hier eigentlich für ein seltsamer Ort? Ich war doch gestern Abend noch bei dir zu Hause. Dein Vater …“
„Hey, komm mal runter, du bist ja völlig durch den Wind!“
Es donnerte mehrere Male gegen die Tür, einhergehend mit unüberhörbaren Appellen, den Raum notfalls gewaltsam zu betreten.
„Schön, dass man bei dir so wunderbar entschleunigen kann.“
„Lass die dummen Sprüche und hilf mir lieber!“
Nachdem sie kurz durch das immer noch geöffnete Fenster geschaut hatte, riss Marlene beide Seitenvorhänge ab, knotete den Stoff zusammen und befestigte ein Ende am direkt danebenstehenden Kleiderschrank. Kurz darauf seilte sich Jaron ab, dicht gefolgt von seiner Retterin. Neben ihnen auf den Holzdielen vor dem Saloon lag noch immer der bewusstlose Mann. Aus dem verlassenen Zimmer drangen derweil Geräusche von geborstenem Material nach draußen, schnell abgelöst durch immer lauter werdendes Stimmengewirr.
Instinktiv umschloss er die weiche Hand und ließ sich im Laufschritt direkt hinter das Gebäude führen. Dort befand sich ein Brunnen, umgeben von bereits gut vertrauter Einöde.
„Dort unten werden wir doch in der Falle sitzen!“
„Sei nicht so laut.“
Die Holzkurbel überschlug sich förmlich.
„Da hat aber jemand ungeahnte Kräfte.“
Marlene ignorierte seine Worte und wartete, bis der Eimer die Wasseroberfläche durchdrang. Wieder musste Jaron den Anfang machen. Er umklammerte vorsichtig das Seil, gelangte dann jedoch zu schnell ans Ziel, wodurch schmerzende Striemen an beiden Händen hinterlassen wurden.
„Verdammt!“
„Jetzt reiß dich zusammen.“
Obwohl lediglich geflüstert, kamen ihre Worte dort unten sehr deutlich an. Gut zehn Meter tief schien der Brunnen zu sein. Sie nahm diese Distanz wesentlich geschickter, was zu einer spürbar sanfteren Landung führte.
„Super, jetzt stecken wir bis zur Taille im Wasser. Immerhin eine willkommene Abkühlung ... Verdursten dürfte ebenfalls niemand …“
„Dreh dich bitte mal nach rechts. Stopp, das reicht schon. Genau dahinter befindet sich auf der anderen Seite ein Tunnel. Also, kurz untertauchen, die Öffnung durchschreiten und drüben geht es dann weiter.“
Jaron konnte ihr nicht ganz folgen.
„Ein Tunnel? Willst du mich verarschen? Wie lang ist der denn und sollen wir etwa blind bis zu seinem Ausgang gelangen?“
Dem Brunnen näherten sich zwischenzeitlich ihre lautstarken Verfolger.
„Schnell, sie sind gleich da … Der Tunnel befindet sich über dem Grundwasserspiegel und führt leicht ansteigend in die Freiheit, außerdem …“
Marlene drückte ihn ohne Vorwarnung in die Tiefe.

Glücklicherweise war das Loch groß genug. Leider hatten beide mit ihren Füßen zuvor den Boden ordentlich aufgewirbelt,

Seiten

Interne Verweise