Randnotiz

Bild von Dieter J Baumgart
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     Vor einigen Wochen fiel mir beim Stöbern in einem Potsdamer Buchantiquariat ein Brief in die Hände, den ich anfangs amüsiert, dann aber mit zunehmender Nachdenklichkeit las. Beigeheftet war ein amtliches Schreiben und eine Randnotiz. Der Brief, in der gestochenen Handschrift eines Urkundsbeamten erstellt, hatte folgenden Inhalt:

An die
Universal-Film AG
Berlin
....., den 10.8. 19..

     Sehr verehrte Dame, geehrter Herr!

     Wenn ich mich mit heutigem Datum in der folgenden Angelegenheit an Sie wende, dann möchte ich Ihre geschätzte Aufmerksamkeit auf ein Vorhaben lenken, das für Sie, nach wohlwollender Prüfung vielleicht von Interesse sein mag. Es handelt sich, in kurze Worte gefaßt, um die Idee zu einem heiteren Film, ein Exposé, wie es im Sprachgebrauch Ihrer Branche genannt wird.
     Zu meiner Person ist zu sagen, daß ich Romanautor bin und mich mit diesem Exposé erstmals auf neuem literarischen Gebiet versuche. Auch möchte ich eingangs vermerken, daß es sich bei dieser Textvorlage um eine reine Fiktion handelt. Aus diesem Grunde habe ich auch auf die Benennung von Orten und handelnden Personen verzichtet und überlasse Ihnen die unvoreingenommene Auswahl entsprechender Namen. Geschieht es doch recht häufig, daß sich in eine erfundene Geschichte namentliche Begriffe einschleichen, die dann Rückschlüsse auf eine vermutete Wirklichkeit zulassen, was für die tatsächlich damit nicht in Verbindung stehenden, aber mit Namen erwähnten und existenten Personen peinlich sein kann.
     Die Geschichte, mit der ich nun Ihre werte Aufmerksamkeit erregen möchte, spielt in einer Kleinstadt, irgendwo im Deutschland der ausgehenden zwanziger Jahre. Ort der Handlung ist eine mittelständische Trikotagenfabrik, geführt von einer stark gehbehinderten alten Dame, die ich hier, der Einfachheit halber und zum besseren Verständnis der Handlung, Frau von A. nennen werde. Mit dem Adelsprädikat möchte ich hervorheben, daß es sich, Sie werden es in den folgenden Textpassagen gewahr werden, bei dieser Dame durchaus um einen Menschen besonderer Prägung und Geisteshaltung handelt.
     Frau von A. ist die jüngste von vier Schwestern, von denen drei bereits verstorben sind.
Selbst schon in vorgeschrittenem Alter, übernimmt sie die Fabrik als blühendes Unternehmen aus den Händen ihres Vaters, der, selbst ein geschickter Techniker und erfindungsreicher Geist, zahlreiche Raffinessen und Klugheiten in den Produktionsprozeß eingebracht hat. Frau von A. ihrerseits nun, hat von all den väterlichen Fähigkeiten eigentlich nur die Liebe zur Fabrik mit ihren komplizierten Maschinen und den nun unter ihrer Obhut stehenden Beschäftigten geerbt, was sich aber in großer, von Verantwortung getragener Fürsorglichkeit ausdrückt. Hingegen bleiben ihr kaufmännisches Verständnis, wie auch unternehmerische Weitsicht versagt, was sie, sicher letztlich auch zum eigenen wirtschaftlichen Schaden, daran hindert, trotz sinkenden Umsatzes die Belegschaft zu vermindern oder den Lohn zu kürzen. So ist es auch erklärlich, daß die Last der finanziellen Entscheidungen allein auf den Schultern des Oberbuchhalters ruht, der es aber nicht über sich bringt, die alte Dame dem Entscheidungszwang, auf Geld oder Mitarbeiter zu verzichten, auszusetzen. Und da es ihm aus vielerlei Gründen auch nicht möglich ist, personelle Verfügungen aus eigener Machtvollkommenheit zu treffen, denn zum einen kennt Frau von A. selbst den jüngsten Botenjungen und würde ihn vermissen, zum anderen aber wüßte er selbst nicht, wen er in die Arbeitslosigkeit verweisen sollte, sinnt er auf andere Möglichkeiten, der drohenden finanziellen Misere Herr zu werden.
     Einfach vor die Prinzipalin zu treten und zu eröffnen, daß die Erträge des Unternehmens die Kosten nicht mehr decken, ist ihm nicht möglich. Zu genau weiß er, daß diese Nachricht den Lebensnerv der Fabrikbesitzerin treffen würde. Die Folge wäre die Aufgabe aller geschäftlichen Aktivitäten und somit der Zusammenbruch des Unternehmens. Andererseits ist er als Berater in finanziellen Angelegenheiten aber auch über den Stand des Familienvermögens unterrichtet. Und so schlägt er gelegentlich vor, notwendige Verbesserungen im Produktionsablauf mittels Ankauf von Nutzungsrechten an neuen Patenten durchzuführen und, als begleitende Maßnahme, auch den Maschinenpark auf aktuellen Stand zu bringen. Daß dies aus dem vorhandenen Betriebsvermögen nicht bewerkstelligt werden kann, ist leicht vermittelbar, denn auch Frau von A. weiß natürlich, daß die allgemeine Wirtschaftslage nicht besonders rosig ist. Also nimmt sie seine, des Oberbuchhalters Empfehlung, gern an, diese zukunftsichernden Investitionen aus dem Privatvermögen zu tätigen. Daß das aus der Familienkasse beigesteuerte Kapital allerdings direkt zur Ablösung aufgelaufener Verbindlichkeiten herangezogen wird, bleibt das Geheimnis des Oberbuchhalters, der es nicht über sich bringt, den wahren Sachverhalt darzustellen. Natürlich kann er sich in dieser Sache auch nicht seinen Mitarbeitern im Büro offenbaren und muß die mit dem Täuschungsmanöver verbundenen schriftlichen Arbeiten des Nachts allein durchführen.
     Da trifft es ihn wie ein Blitz aus ohnehin schon unheilschwangerem Himmel, als er sich eines Tages, anläßlich einer Geschäftsbesprechung unter vier Augen, seitens der Prinzipalin mit der Frage konfrontiert sieht, was er denn wohl nächtens im Büro zu schaffen habe, und ob es ihm vielleicht tagsüber an notwendiger Hilfe mangele. Dergestalt in die Enge getrieben, nimmt der Ärmste Zuflucht zu einer Notlüge, die er, kaum ausgesprochen, schon bereuen soll.
     Er schreibe, so erklärt er seine nächtliche Anwesenheit im Kontor, an einer Firmengeschichte in der Form eines Lustspiels, um sie nach Fertigstellung zur Verfilmung anzubieten. Und weil der Inhalt ganz auf die heitere Atmosphäre in der Firma abgestellt sei  –  so spinnt er den Lügenfaden weiter  –, gelänge ihm dieses Vorhaben am ehesten in der vertrauten dienstlichen Umgebung, wo er nächtens und in aller Stille seinen Gedanken und Eingebungen folgen könne. Daß ein solches Vorhaben niemals ohne Einwilligung der Firmeninhaberin verwirklicht werden kann, ja, daß schon der Gedanke an einen solchen Alleingang eine erhebliche Überschreitung seiner Befugnisse darstellt, ficht ihn in der momentanen Bredouille nicht an. Noch weniger allerdings rechnet er mit der Entgegnung der Prinzipalin, die ihm begeistert ins Wort fällt, ihn ihrer Unterstützung versichert und alle Anstrengungen zu unternehmen verspricht, das Vorhaben ihres Oberbuchhalters, jedenfalls soweit es die Verfilmung beträfe, in die Tat umzusetzen.
     Jener nun sieht sich vom Regen in die Traufe geraten, muß er sich doch nun nicht nur den Zahlenkolonnen widmen, die wie ein Alp auf ihm lasten, sondern zu allem Überfluß auch noch ein filmreifes Lustspiel verfassen. Und dazu ist, aller Erfahrung nach, kaum eine Berufsgruppe weniger geeignet, als die der Buchhalter. Von Ausnahmen natürlich abgesehen.
     Und, wie es im Leben wohl des öfteren geschieht, so befördern auch hier extreme Belastungen  unvermutete Begabungen ans Licht. Jedenfalls gelingt es dem Oberbuchhalter mit nahezu übermenschlicher Anstrengung, immer im Bewußtsein der besonderen Schmach des in doppelter Hinsicht verantwortungslos Handelnden, eine Firmengeschichte zu entwerfen, die sich vom in diesem Genre Gewohnten überaus vorteilhaft absetzt. Sie trägt nicht nur der menschlichen Atmosphäre in der Fabrik Rechnung, sondern greift auch in zahllosen kleinen Begebenheiten liebenswürdige Schwächen und verantwortungsvolles Handeln auf, um daraus am Ende ein heiter-informatives Gesamtbild zu formen, das den Leser unweigerlich in seinen Bann zieht.

     Tatsächlich wird die Arbeit an dieser Firmenhistorie für den Oberbuchhalter unversehens zur Flucht in eine andere Welt. Hier kann er sich für kurze Zeit den Gedanken an vollbrachte und noch bevorstehende Vertrauensbrüche entziehen, die sonst bleischwer auf ihm, dem die Ausweglosigkeit seines Tuns durchaus vor Augen steht, lasten. Doch sagt ein Trost spendendes altes Sprichwort nicht zu Unrecht: Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten!
     Frau von A., die von den literarischen Bemühungen ihres Mitarbeiters überaus angetan ist, läßt ihre Verbindungen spielen und erreicht, daß das Lustspiel verfilmt wird. Und nicht nur das! Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der kleinen Trikotagenfabrik spielen sich selbst. Nur die Rolle der Firmeninhaberin, die wegen ihrer Beschwerden nicht so gut zu Fuß ist, wird von einer sympathischen Filmschauspielerin übernommen. Und so versteht es sich am Ende fast von selbst, daß der Oberbuchhalter seine Verfehlungen, die ja eigentlich die Firma vor dem Zusammenbruch bewahrten, eingesteht, worauf es für alle Belegschaftsmitglieder eine Selbstverständlichkeit ist, die erhaltene Gage zur Konsolidierung der finanziellen Situation des Unternehmens zu spenden.
     Dies ist das Ende der Geschichte, die ich Ihnen hiermit zur Prüfung auf ihre mögliche Verfilmbarkeit anzubieten, mir erlaube. Da ich vorhabe, demnächst eine schon länger geplante Reise anzutreten, würde ich Ihre gelegentliche Rückäußerung sehr begrüßen und verbleibe

mit vorzüglicher Hochachtung ...

Diesem Handschreiben war ein Bescheid des Bürgermeisteramtes von ..... beigeheftet, dessen Inhalt ich hier ebenfalls im Wortlaut wiedergebe:

An die
Universal-Film AG
Urheberrechtsabteilung

Berlin

Sehr geehrter Herr .....!

In Beantwortung Ihrer Anfrage vom 14.9.19... muß ich Ihnen zu unserem Bedauern mitteilen, daß Herr ..... am 13.8.19... unter noch ungeklärten Umständen verstorben ist. Der Verstorbene, der zweifelsfrei mit dem von Ihnen zur Anfrage gebrachten Romanautor identisch ist, war übrigens Oberbuchhalter in der ebenfalls von Ihnen angesprochenen Trikotagenfabrik A. (ohne ‘von’), die sich derzeit in Liquidation befindet.

Hochachtungsvoll

....... (Verwaltungsangestellter)

Die seitens der UFA Urheberrechtsabteilung  angebrachte Randnotiz besteht nur aus einem Wort:

ERLEDIGT

Nachwort

     Diese Geschichte ist frei erfunden. Niemand weiß das besser als ich, der Autor. Und doch glaube ich, daß sie sich so oder ähnlich zugetragen haben könnte. Und so habe ich auch keine Orts- oder Personennamen in Zusammenhang mit der Handlung verwendet. Denn ich möchte, wie schon der Oberbuchhalter, keine Zusammenhänge herstellen, wo keine sind.
Dieter J Baumgart

Veröffentlicht / Quelle: 
Flugenten - 19 unordentliche Geschichten (Buch)