Es war einmal eine einfache, sagen wir ruhig schlichte Geschichte, eine von denen, wie sie täglich zu Tausenden auf Redaktionstischen landen und in Ermangelung eines bekannten Verfassernamens, Kürzels oder Pseudonyms stets umgehend und unkommentiert in den Ausgangskorb oder gleich in die Ablage „P“ wandern.
Die Geschichte, von der hier nun die Rede sein soll, landete allerdings zunächst nirgendwo – nein, nein, nicht im Nirgendwo, sondern buchstäblich nirgendwo, weil sie nie jemandem angeboten wurde. Sie blieb auf den Lippen des Verfassers und erfreute seine Zuhörer bei Lesungen. Einmal schickte er sie in einem kleinen, selbst verlegten Buch mit anderen Geschichten auf die Reise. Doch das Buch sagte den relevanten Gewerbetreibenden nicht zu – der Inhalt stand sowieso nicht zur Debatte – und so waren es einige wenige Exemplare, die einen Käufer fanden. Die, allerdings, erinnerten sich noch nach Jahren daran, was den Verfasser und Kleinstverleger zwar sehr freute, aber – weil es sich um einen lernfähigen solchen handelte – nicht den Wunsch aufkommen ließ, es noch einmal zu versuchen.
Erst, als ein Freund des Verfassers von der Geschichte so angetan war, daß er sie flugs in seine Heimatsprache übertrug – richtig, er übersetzte sie nicht, er übertrug sie – öffnete sich eine neue, unerwartete Perspektive. Der Freund, es war ein Franzose, übertrug die Parabel so gut, daß viele Franzosen, die sie nun auch lesen konnten, von der wirklich sehr schlichten Geschichte angetan waren.
Da hatte der Verfasser eine Idee – dachte er – und setzte sie sogleich in die Tat um. Er schickte den Originaltext und die französische Übersetzung an den Auslandssender seines Heimatlandes und fragte an, ob es unter den fremdsprachlichen Mitarbeitern der Rundfunkanstalt vielleicht den einen oder anderen gäbe, der Interesse daran hätte, diese Geschichte, er nannte sie eine Parabel über das Entstehen des Lächelns, in seine Heimatsprache zu übersetzen. Daß er nicht beabsichtige, die eventuellen Übersetzungen profitabel weiter zu veräußern, fügte er erklärend hinzu. Die Antwort kam umgehend und gab dem Verfasser zu denken:
Die Mitarbeiter der (hier folgte der Name der staatlichen Rundfunkanstalt) können leider keine kostenlosen Übersetzungen vornehmen, weshalb wir um Ihr Verständnis bitten, daß wir Ihrem Wunsch nicht entsprechen können.
Mit freundlichen Grüßen...
Dem Verfasser erstarb das Lächeln für einige Minuten auf den Lippen. Doch dann begriff er: Wenn da jeder kommen würde – eben...
Jahre vergingen, die Parabel und auch der amtliche Bescheid des Auslandssenders machten die Runde unter den Freunden und Bekannten des Verfassers. Und so ergab es sich, daß gelegentlich einer meinte, du, ich kenne da jemanden, den frage ich mal... Eine gute Freundin hatte eine Nichte in Japan. „Das macht Taeko bestimmt sehr gern“, meinte sie. Und ein anderer Freund mobilisierte seine Kollegen in der Firmenvertretung in Hongkong, und so weiter, und so fort.
Die Geschichte machte sich selbständig, sie besann sich auf den Titel, den ihr der Verfasser mitgegeben hatte, und flatterte buchstäblich um den ganzen Erdball. Unter den Menschen, die sie gern und mit Hingabe in ihre eigene Landessprache übertrugen, waren Leute aus nahezu allen Berufen und Wirkungsbereichen. Es waren Menschen mit Phantasie, für die das Lächeln immer noch mehr war als eine bloße Muskelreaktion. Begeistert von diesen Erfolgen, faßte der Autor schließlich wieder Mut und sah sich auch selbst um. Die gute Fee bei seinem Zahnarzt erinnerte sich an einen Onkel, der in einem koreanischen Kloster lebte und arbeitete. Der Menschenrechtsbeauftragte im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina, der per E-mail zu einer internationalen Post-Art Exhibition aufgerufen hatte, übertrug die Geschichte aus der englischen Fassung ins Portugiesische. Und als anläßlich des katholischen Heiligen Jahres in einer großen Tageszeitung ein Bericht über die Vorbereitungen im Vatikan erschien, wandte sich der Verfasser der Parabel an den im Bericht genannten Leiter der päpstlichen Kommission mit der Frage, ob es nicht schön wäre, wenn unter der stetig steigenden Zahl von fremden Sprachen auch Latein vertreten wäre und fügte neben dem Original auch eine italienische Fassung an. Einige Wochen geschah nichts. Als im Freundeskreis das Gespräch auf das Heilige Jahr und die Anfrage im Vatikan kam, meinte jemand: „Das Heilige Jahr in Rom? An wen hast du da geschrieben? Ach – mein Schwager leitet die Pressekommission. Ich spreche ihn mal darauf an.“ Eine Woche später gab es auch einen lateinischen Text.
Angesichts dieses „Lächelns“ aus aller Welt grübelte der Autor doch darüber, wie man den vielen Schmetterlingen ohne all zu großen finanziellen Aufwand kleine Rundflüge in den Köpfen interessierter Leser ermöglichen könne. Und so kam er auf eine Idee, die Jahre später etwas bewirken sollte, wovon er schon lange nicht einmal mehr zu träumen wagte.
In der Nähe des kleinen Dorfes im südlichen Frankreich, in dem diese Geschichte einer Geschichte sich zu trug, gab es ein weiteres Dorf, genauer gesagt, ein Geisterdorf. Es mußte vor Jahrzehnten von seinen Bewohnern verlassen werden, weil ein Stausee angelegt wurde, der alle Straßen zum Dorf und auch die Weinberge unter Wasser setzte. Der ehemalige Bürgermeister kämpfte mit aller Macht für sein Dorf und erreichte schließlich, daß eine provisorische Straße gebaut wurde und zumindest die Kommune mit ihren anderen kleinen Gehöften erhalten blieb. Der See hatte sich inzwischen zu einem Paradies für Pflanzen und Tiere entwickelt und die zuständigen Behörden achteten energisch darauf, daß die herbeiströmenden Besucher sich an Gebote hielten und die neu erstandene Flora und Fauna respektierten. Das Rathaus, die kleine Kirche und ein Wohnhaus wurden restauriert, die anderen Ruinen konserviert und so vor dem Verfall bewahrt. Vierzehn Einwohner sorgen seitdem gemeinsam mit der Tochter des ehemaligen Bürgermeisters – die das Amt ihres Vaters übernommen hat und so sein Erbe fortführt – dafür, daß die Gemeinde Jahr für Jahr das Ziel von vielen tausend Naturfreunden ist, die kleine Feste auf dem wieder erstandenen Platz vor dem Rathaus feiern und sich an den Ufern des Sees sonnen.
Ein großes Holztor an einer der konservierten Ruinen brachte den Autor auf eine Idee. Unter den inzwischen mehr als dreißig Sprachen wählte er vierundzwanzig aus, ließ die DIN A 4 Blätter wetterfest einschweißen und befestigte sie mit Reißnägeln an diesem Holztor. Jahre vergingen, hin und wieder ersetzte er Blätter, die von Wind und Wetter beschädigt waren oder einen Liebhaber gefunden hatten. Eines Tages im Frühjahr – der strenge Winter hatte unter den „Schmetterlingen“ gewütet – tauschte er wieder beschädigte Exemplare aus, als eine Besucherin ihn ansprach. Sie sei Malerin, meinte sie, und würde diese wunderschöne Geschichte gern illustrieren; ob sie das wohl dürfe. Aber natürlich, erwiderte der Autor und freute sich über das Interesse.
Und wieder vergingen Jahre. Einmal besuchte ihn die Malerin mit ersten Skizzen. Doch es war nicht sein unsichtbarer Schmetterling und die Idee einer Illustration dieser Parabel rückte in weite Ferne. Der Autor hatte die Begegnung schon nahezu vergessen, als er eines schönen Sommertages mit seiner Frau in einer kleinen Stadt in der Nähe in einem Café saß. Da wollte es der Zufall, daß die Malerin ihn entdeckte, nachdem sie ihn in seinem Dorf besuchen wollte, aber nicht angetroffen hatte. Sie hatte auch eine Mappe mit den ersten Aquarellen für die Parabel dabei. Begeistert betrachtete der Autor die Entwürfe und erahnte, was sich da entwickelte. Der Zufall, dieser große Regisseur, war dabei, etwas zu realisieren, was er, der Mensch, längst zu den Akten gelegt hatte.
Wieder vergingen Jahre, die Aquarelle gewannen an Ausdruckskraft und schafften etwas, was bisher nur phantasiebegabten Lesern vorbehalten war: Sie hauchten dem unsichtbaren Schmetterling ein Leben ein, das ihn weit über seine sichtbaren Artgenossen erhob. Und nicht nur das: Die Faszination der Aquarelle, die nun den Text begleiteten, überzeugte auch einen Verleger, der seinerseits die Ideen und Vorschläge beisteuerte, die aus dem Ganzen ein Buch entstehen ließen, das sich nun in drei Sprachen auf den Weg zu jenen Leserinnen und Lesern macht, für die das Lächeln immer noch etwas mehr als eine bloße Muskelbewegung ist.
Direkt vor dem Haus des Verfassers und seiner Frau öffnet sich ein kleiner Fußweg in den Talkessel, an dessen Rand das Dorf liegt. An diesem Weg hängt an einem Holzpfahl, wetterfest eingeschweißt, die erste Übersetzung der Parabel Schmetterlinge in Französisch. An manchen Tagen sind die Stimmen von Menschen zu hören, kleinen, großen, jungen und alten. Sie lesen die Geschichte einander vor und der Verfasser lauscht, freut sich und weiß, was wichtig ist an dieser schlichten Geschichte, die offenbar in nahezu allen Sprachen verständlich ist.
Die Entstehung des Lächelns in Celles
„Geh zu den Menschen und sei das Lächeln“, lautet der letzte Satz in der Geschichte vom unsichtbaren Schmetterling, für den es keinen Körper, keine Flügel und Fühler mehr gab. „Nichts von alledem, was seine Brüder und Schwestern, die wie wunderschöne Blumen durch die Lüfte flatterten, so hatten.“
Dieter J Baumgart, der Autor dieser Parabel über das Entstehen des Lächelns, lebt mit seiner Frau in Mourèze. Ende der siebziger Jahre entdeckte er das verlassene Dorf Celles am Lac du Salagou, einem Stausee in Südfrankreich, auf der Suche nach Fotoplätzen für Auto-Prototypen.
Zehn Jahre später, in den Stunden vor der Aufführung der Diaporamaschau „Die Reise nach Mourèze“ in einer Strafanstalt in Deutschland, kreisten die Gedanken des Autors um die Menschen, die er mit diesen Bildern aus einer Welt, die ihnen verschlossen war, vielleicht schockierte. In diesen Stunden erwachte der unsichtbare Schmetterling im Kopf des Autors zum Leben. In 30 Minuten hatte er die Parabel geschrieben. Zum erstenmal gelesen hat er sie in dieser Strafanstalt. Zusammen mit anderen Geschichten veröffentlichte er sie in einem kleinen Buch, das jedoch mangels professioneller Werbung kaum Käufer fand.
Auf der Suche nach einer Möglichkeit „seinem“ Schmetterling „preiswerte Rundflüge in den Köpfen interessierter Menschen“ zu ermöglichen, kam er auf die Idee, die Parabel, die inzwischen von Freunden und Freunden von Freunden aus aller Welt in mehr als 24 Sprachen übersetzt worden war, an einem alten Holztor in Celles aufzuhängen.
Jahre später, beim Auswechseln beschädigter Blätter, sprach ihn die schweizerische Malerin Theres Studer an und fragte, ob sie das Thema illustrieren dürfe. Die Idee, diese Parabel in mehreren Sprachen in einem Buch zu veröffentlichen, wurde geboren. Wieder sollten mehrere Jahre vergehen. Die Aufgabe, einen unsichtbaren Schmetterling bildlich „zum Leben zu erwecken“, war eine künstlerische Herausforderung. Doch nicht nur das gelang der Malerin. Vor einem Jahr konnte sie auch den Züricher Verleger Alexander Auer, éditions à la carte, für das Projekt begeistern.
Jetzt, im Jahr 2009, ist das Buch „Die Entstehung des Lächelns – Schmetterlinge“ in Deutsch, Französisch und Englisch erschienen.
2009 ist es auch vierzig Jahre her, daß die letzten Bewohner von Celles ihr Dorf mit Booten verlassen mußten, weil die Straßen schon von den Wassermassen des Stausees überschwemmt waren.
Alles Zufall? Die Idee mit den Texten am Holztor, das Zusammentreffen mit der Malerin und vieles, vieles andere im Zusammenhang mit dieser Parabel?
„Ja – aber“, sagt der Autor. „Was ist ‚Zufall‘, einfach Zufall? Nein. Der Zufall ist, so meine ich, der große Veränderer, Gestalter, in einem Wort, der Regisseur, der in einem Menschenleben meist unbemerkt die Weichen stellt.“
Und natürlich sieht der Autor auch durchaus Parallelen zwischen Celles, dem Dorf, das einem Stausee geopfert wurde, und einem unsichtbaren Schmetterling, der den Menschen das Lächeln bringt: „Ich habe die Veränderungen in Celles in den letzten dreißig Jahren miterlebt. Wie mein Schmetterling, hat auch dieses Dorf aus dem Nichts heraus eine neue Aufgabe gefunden: Die Wiederentdeckung der Natur.“
Dieter J Baumgart