Rotkäppchen und der gute Wolf oder wie der Mensch auf den Hund kam - Page 2

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von Swantje Baumgart

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gewesen, der offenbar nicht gesehen werden wollte. Rotkäppchen beschleunigte ihre Schritte. Sie ging immer schneller, obwohl sie wusste, dass sie sich so nur in die Angst hineinsteigern würde.
„Nicht rennen“, sagte sie laut zu sich selbst. „Wenn du zu rennen beginnst, dann gestehst du dir selbst deine Angst ein. Und das Schlimmste an der Angst ist die Angst selbst.“
Natürlich war das nicht ganz falsch, aber etwas anderes war noch viel schlimmer. Nachdem Rotkäppchen eine ganze Weile mit schnellen Schritten durch den Wald gelaufen war, kam ihr plötzlich alles ganz fremd vor. Die Bäume waren nicht mehr die Bäume, an denen sie immer vorübergegangen war. Sie konnte sich nicht mehr an den vielen Fichten und Tannen orientieren, denn es gab plötzlich keine Fichten und Tannen mehr. Sie war umringt von Buchen und Eichen, die sie noch nie im Leben gesehen hatte. Der Wald war licht, aber das machte ihn nicht weniger unheimlich.
Der schmale Weg führte immer tiefer in diesen Laubwald hinein. Rechts und links sah sie immer wieder Abzweigungen, matschige Feldwege, halb zugewachsen. Offenbar hatte diesen Ort seit Jahren kein Mensch mehr betreten. Stattdessen sah sie aufgewühlte Flächen, auf denen sich offenbar die Wildschweine des Nachts amüsierten.
Rotkäppchen dachte an einen Satz, den sie einmal in einer Zeitschrift gelesen hatte: „Wildschweine sind mindestens so gefährlich wie Wölfe.“
Rotkäppchen erschauerte. Sie wandte den Blick zum Himmel, der schon den ganzen Tag wolkenverhangen gewesen war. Es begann bereits zu dämmern. Es war die Zeit, um die die Wildschweine aktiv wurden, das wusste sie.
Rotkäppchen spürte einen Kloß im Hals, doch sie wollte sich auf keinen Fall der Angst hingeben. Aber was sollte sie tun? Weitergehen? Immer tiefer in den Wald hinein? Zurückgehen? Aber wohin denn? Da waren so viele Abzweigungen, so viele Wege, dass sie sich hoffnungslos verlaufen würde.
Plötzlich hörte sie Zweige knacken. Langsam, ganz langsam wandte Rotkäppchen sich um. Und erschrak, wie sie sich noch nie in ihrem Leben erschrocken hatte. Im ersten Augenblick glaubte sie, einem Wildschwein gegenüberzustehen. Graues Fell, Stehohren, ein dichter Schwanz, gelbe Augen und eine lange Schnauze. Ein dichter Schwanz? Eine lange Schnauze? Wildschweine hatten weder dichte Schwänze noch langen Schnauzen. Und sie hatten schon gar keine schwarze Nase, die sich unaufhörlich bewegte. Vor ihr stand ein Wolf.
Rotkäppchen stand wie angewurzelt da. Nicht weglaufen! Bloß nicht den Jagdinstinkt auslösen. Einfach stehen bleiben, höchstens rückwärts weitergehen und dabei den Wolf nicht aus den Augen lassen.
Und dann erschrak sie erneut. Aber eigentlich erschrak sie gar nicht, eigentlich war sie mehr überrascht. Denn der Wolf begann plötzlich zu sprechen.
„Hab keine Angst“, sagte er und schaute sie unverwandt an.
Rotkäppchen hätte beinahe hysterisch gelacht. Wovor sollte sie denn Angst haben? Vor einem wilden Tier mit langen Zähnen, das sie binnen Sekunden zerreißen konnte? Iwo, wer hatte schon Angst vor dem viel zitierten bösen Wolf? Doch selbst das Lachen blieb ihr im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken. Wie versteinert stand sie da und wusste nicht, ob sie Angst haben sollte oder alle Naturführer bei der nächsten Gelegenheit der Altpapierverwertung übergeben sollte. Ein sprechender Wolf? Und dann sagte er noch so etwas Triviales wie „Hab keine Angst.“ Ein verdammt schlechter Scherz.
„Du bist ein Wolf“, sagte sie.
Okay, besonders intelligent war diese Äußerung auch nicht.
Der Wolf bewegte leicht den Kopf auf und ab. Es schien, als sei diese Bewegung für ihn sehr ungewohnt.
„Es tut mir leid, wenn ich dich erschrocken … äh, erschreckt habe“, sagte er.
Seine Stimme klang traurig. Rotkäppchen hatte plötzlich das Bedürfnis ihn zu streicheln. Doch dann dachte sie an die schrecklichen Geschichten, von denen sie gehört hatte. Von Menschen, die versucht hatten, zahme Wölfe zu streicheln, die ihnen daraufhin die Hand oder gleich den ganzen Arm abgebissen hatten. Der Wolf schien ihre Gedanken zu kennen, obwohl sie sich redlich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen.
„Du musst wirklich keine Angst vor mir haben“, sagte er.
„Du bist mir gefolgt“, erwiderte Rotkäppchen.
Es war irgendwie seltsam, mit einem wilden Tier zu sprechen. Man sprach mit Hunden, ja. Und manchmal hatte man das Gefühl, als verstünden sie, was man sagte. Aber ein wildes Tier? Und dieses Tier schien jedes Wort zu verstehen, das sie sagte. Nicht nur den Sinn, sondern wirklich jedes Wort.
Ihre Großmutter sprach mit den Tieren. Zumindest behauptete sie das. Aber wenn Rotkäppchen ganz ehrlich war, dann hatte sie wie alle anderen auch immer gedacht, dass es schon etwas verschroben war, so etwas zu behaupten.
Wieder nickte der Wolf. Und wieder schien es, als sei diese Bewegung ungewohnt für ihn, als ahme er nur etwas nach, was er an den Menschen beobachtet hatte, in der Hoffnung, dass Rotkäppchen ihn verstand.
„Ich folge dir schon seit langer Zeit.“
„Warum?“
Rotkäppchen wurde nun mutiger. Vielleicht waren all die Geschichten, die sie gehört hatte, wirklich falsch, und der Wolf wollte ihr tatsächlich nichts tun.
„Es gibt viele böse Menschen, weißt du. Männer, die kleinen Mädchen schreckliche Dinge antun. Ich wollte nicht, dass dir was passiert.“
„Und warum hast du dich dann nie gezeigt?“
Der Wolf zog eine Lefze hoch. Dabei zeigte er seine langen Zähne. Aber es hatte nichts Bedrohliches. Vielmehr schien er auch mit dieser Bewegung die Menschen nachzuahmen. Es hatte vielmehr etwas Trotziges.
„Und wie hättest du darauf reagiert?“, fragte er.
„Ich hätte mich furchtbar erschrocken“, erwiderte Rotkäppchen verschämt.
Der Wolf nickte. Dann hob er den Kopf und schaute zum Himmel hinauf. „Es wird bald dunkel“, sagte er. „Lass uns zum Haus deiner Großmutter gehen.“
„Du weißt, wo sie wohnt?“
Der Wolf nickte wieder und langsam schien ihm diese Bewegung vertrauter zu werden.
Gemeinsam gingen der Wolf und Rotkäppchen weiter. Erst lange nach Einbruch der Dunkelheit erreichten sie das Haus der Großmutter. Sie verabschiedeten sich freundlich voneinander, nachdem sie sich für das nächste Wochenende ein Stück außerhalb des Dorfes, in dem Rotkäppchen wohnte, verabredet hatten, und dann verschwand der Wolf in der Dämmerung.
Sofort erzählte Rotkäppchen der Großmutter von der ungewöhnlichen Begegnung.
Die Großmutter lachte erleichtert auf. „Ich hatte mir schon Sorgen gemacht“, sagte sie. „Aber wenn ich gewusst, dass du mit Ronny unterwegs bist, dann hätte ich natürlich gewusst, dass dir nichts passieren kann.“
„Ronny?“, fragte Rotkäppchen verständnislos.
Die Großmutter nickte. „Ja, Ronny. Die anderen Wölfe belächeln ihn immer, weil er die Menschen mag. Aber Ronny lässt sich nicht beirren.“
„Was haben denn die anderen Wölfe gegen die Menschen?“
Die Großmutter schaute Rotkäppchen eindringlich an. „Weißt du, die Menschen haben die Wölfe lange Zeit gejagt. Und sie erzählen sich schreckliche Dinge über sie. Dabei vergessen sie immer, dass alle Haushunde von den Wölfen abstammen.“
„Von Ronny?“
Die Großmutter lachte. „Nein, natürlich nicht von Ronny. Aber von den Wölfen. Die Nachfahren der Wölfe liegen bei den Menschen im Bett und auf dem Sofa. Sie passen auf deren Vieh auf. Sie gehen mit ihnen jagen und bringen das geschossene Wild. Sie helfen Menschen mit einer Behinderung. Sie sind die liebsten Spielkameraden vieler Kinder. Und sie sind die besten, manchmal sogar die einzigen, Freunde vieler Erwachsener. Aber die Wölfe, die nächsten Verwandten der Hunde, die werden als böse Menschenfresser dargestellt.“
„Aber das sind sie nicht“, erwiderte Rotkäppchen und dachte an den freundlichen Ronny, der ihr immer wieder gefolgt war, um sicherzugehen, dass ihr nichts passierte. Bei dem Gedanken, dass Ronny sich ihr nie gezeigt hatte, aus Angst, dass sie sich vor ihm fürchten könnte, wurde sie ganz traurig.
Die Großmutter schüttelte den Kopf. „Nein, das sind sie nicht. Wusstest du, dass die Wölfe schon seit vielen Jahren wieder hier leben? Aber sie zeigen sich nie, aus Angst, dass die Menschen ihnen nachstellen. Weißt du, vor langer, vor sehr langer Zeit, da hatten die Menschen noch keine Vorurteile. Da betrachteten sie die Wölfe als Nahrungskonkurrenten und wollten sie nicht in ihrer Nähe haben. Aber sie hatten keine Angst vor ihnen. Den Wölfen ging es ganz ähnlich. Aber dann stellten sie fest, dass die Menschen Tiere erlegten und dann das Beste von diesen Tieren fortwarfen.“
„Aber sie haben doch das Fleisch gegessen“, unterbrach Rotkäppchen die Großmutter.
„Das Fleisch ja. Aber nicht die Knochen.“
Rotkäppchen verzog angewidert das Gesicht. „Aber Knochen kann man doch nicht essen.“
„Und ob man das kann. Und ganz früher haben die Menschen das auch getan. Aber dann wurden sie verwöhnt und aßen nur noch das gute Fleisch und warfen den Rest einfach weg. Die Wölfe konnten eine so leichte Mahlzeit nicht einfach liegen lassen und trauten sich immer näher an die Menschen heran. Irgendwann folgten ihnen auch ihre Welpen. Und dann stellten Menschen und Wölfe fest, dass man sich gar nicht so sehr voneinander unterschied. Und so kam es, dass die Kinder der Menschen mit den Kindern der Wölfe spielten, während die Erwachsenen gemeinsam auf die Jagd gingen.“
„Und warum tun sie das heute nicht mehr?“
Die Großmutter dachte eine ganze Weile nach. „Weil Menschen und Wölfe irgendwann aufhörten, dem anderen zu vertrauen. Weißt du, zu so einem Zusammenleben gehört sehr viel Vertrauen. Und nachdem die Menschen die Wölfe über Jahrhunderte gejagt und in vielen Teilen der Welt ausgerottet hatten, zogen sich die Wölfe immer mehr zurück.“

Als Rotkäppchen am nächsten Tag nach Hause ging, war sie sehr nachdenklich. Sie hatte viel über die Wölfe gelernt und beschloss, sich nun auch dafür einzusetzen, die Missverständnisse zwischen Menschen und Wölfen auszuräumen.
Als sie am folgenden Wochenende zu ihrer Großmutter ging und Ronny sie wie verabredet erwartete, sprach sie sehr lange mit ihm darüber. Und Ronny erklärte sich seinerseits bereit, bei den Wölfen ein gutes Wort für die Menschen einzulegen. Leider erwies sich dies auf beiden Seiten als sehr schwierig. Aber Ronny und Rotkäppchen teilen sich nicht nur die beiden ersten Buchstaben in ihrem Namen. Auch eine gewisse Hartnäckigkeit und ein unerschütterlicher Optimismus verbindet die beiden miteinander und vielleicht klappt es ja wirklich eines Tages.

Leider ist es immer wieder sehr schwer und zeitaufwendig, jahrhundertelange Missverständnisse auszuräumen, ganz gleich, ob zwischen Menschen und Wölfen oder zwischen verschiedenen Völkern. Und weil sie nicht gestorben sind, versuchen unsere Helden noch heute, wieder ein Band der Freundschaft zwischen Mensch und Wolf zu knüpfen. Ronny und Rotkäppchen geben die Hoffnung nicht auf. Und wie es sich für ein gutes Vorbild gehört, haben sie sich ewige Freundschaft geschworen, und an diesen Schwur werden sie sich halten.

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