Ruth

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von Daniel G. Spieker

Eine Fahrt, dreitausend Euro. Im Kofferraum knapp drei Kilo Kokain. Mein Herz pochte – ich fühlte mich lebendig. Knast oder dreitausend Euro. Alles entschied sich innerhalb von sechs Stunden. Aber so aufregend wie beim ersten Mal eben auch nicht mehr. Und so war ich dazu übergegangen die Figuren der Raststätten auf der Route zu sammeln. Ich hatte mal einen Trucker gesehen, der Hunderte dieser Dinger hatte und wahrscheinlich war genau das die Zielgruppe. Jede Gaststätte machte sich ein eigenes Design und verkaufte sie mal für einen Dollar, mal für zehn. Ich hatte bisher Jefferson's Burgermann, das Marsmännchen von dem Unearth Lokal, zweimal Margaret's Grilldrache und noch den Revolver von Ebony & Brooks. Das war meine Strecke; und bis auf dieses Niemandsland, durch das ich gerade fuhr, hatte ich sie auch lieb gewonnen. Aber gerade war es nur eine ausgebaute Landstraße, an deren Rändern sich sterbende Vegetation und ein paar Hütten befanden. Und das Zentrum war ein ranziges Diner. Auf der letzten Fahrt hatte ich zum zweiten Mal den Grilldrachen eingesteckt, einfach weil ich gehofft hatte, dass Margret's Grill zwei verschiedene Designs hatte; für jedes Lokal eins. War natürlich nicht so gewesen.
Die Raststätte, die ich bisher gemieden hatte, kam in Sichtweite und so entschied ich mich einzubiegen. Ich würde nur einen Kaffee nehmen, die Figur kaufen und in zehn Minuten weg sein. Dann wäre meine Sammlung komplett.
Mit einem unguten Gefühl bog ich auf den Rastplatz, auf dem nur rostige Autos und ein LKW stand. Auch ein Polizeiauto machte ich aus, aber jetzt konnte ich nicht einfach schnell weiterfahren; das wäre verdächtig. Eigentlich war es egal, trotzdem raste mein Herz. Ich atmete einmal tief ein und aus. Niemand sucht dich. Ich parkte einige Plätze vom Polizeiwagen entfernt, stieg aus und ging schnurstracks in das Diner. Joe's Diner. Ich drückte die Tür auf und ein Klingeln ertönte. Für einen Augenblick lagen alle Blicke auf mir, bevor sich die Arbeiter, Trucker und Penner wieder ihren Drinks und ihren Gesprächen zuwendeten. Kurz scannte ich den Raum nach dem oder den Polizisten, aber konnte ihn oder sie nicht ausmachen. Vielleicht gerade auf Toilette.
Warum musste ich diese dummen Figuren sammeln? Ich schüttelte den Kopf und suchte mir den nächstbesten Platz, weiter hinten war noch etwas frei. Gedankenverloren lief ich darauf zu. Gerade als ich auf den Sitz rutschen wollte, merkte ich wie ich gegen jemanden stieß, dann ein Klirren, ein genervter Ausruf. Eilig wandte ich mich um und sah wie der Inhalt einer zerplatzten Bierflasche an meine Schuhe floss. Ich wich zurück.
„Scheiße. Können Sie nicht aufpassen?“, herrschte ich die ältere Frau vor mir an, die sich gerade bückte, um die Scherben aufzusammeln. Eigentlich wollte ich nicht, aber ich wollte schon gar nicht irgendeinen Schaden bezahlen müssen, weil sie nicht aufgepasst hatte. Das war schließlich ihr Job. Sie sah auf und starrte mich an. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Sie blieb ganz ruhig. Ich konnte jede einzelne Falte erkennen, jede minimale Vibration. Und sie starrte und starrte und starrte.
„Ähm … ich ...“ Ich wendete mich ab und setzte mich an den nächsten Tisch.
Die Frau hatte die Scherben schnell eingesammelt und kurz darauf kam ein jüngerer Mann und wischte den Rest weg. Als er fertig war, kam er noch zu mir, zückte einen Block und fragte, was ich wolle.
„Einen Kaffee bitte und … haben Sie diese Figuren? Diese Raststättenfiguren?“
„Ne, sowas haben wir nich', sorry.“ Alles umsonst.
„Dann nur der Kaffee und die Rechnung.“
„Geht klar.“
Er schaute mich noch einen Augenblick lang an und beugte sich dann etwas runter. „Sie sollten sich bei Ruth wirklich entschuldigen. Das ist besser für Sie.“
Ich verzog nur die Augenbrauen. „Was macht das?“
„Ein Dollar.“
Ich gab ihm den Dollar und er bedankte sich knapp.
„Aber machen Sie's lieber jetzt – später müssen Sie eh.“ Er ging.
Angespannt nahm ich einen Schluck; der Kaffee schmeckte besser als erwartet. Ich blickte mich um und bemerkte auch den Polizisten. Er saß in einem Winkel, der von der Eingangstür nicht einsehbar war. Irgendwie hatte ich Angst, dass die Frau, die ich angerempelt hatte, mit dem Polizisten sprechen und mich verpfeifen würde, aber warum sollte sie das tun?
So oder so fühlte ich mich zunehmend unwohl, stürzte das schwarze Gold schließlich herunter, als es erträglich warm war, stand auf, ging zurück zum Eingang und wollte das Diner verlassen.
„Hey!“, rief eine Frau hinter mir und ich zuckte zusammen.
War ich gemeint? Ich drehte mich langsam um und sah, dass die Frau mich wieder anstarrte.
„Du hast eine Stunde.“
Perplex sah ich sie an, wandte mich wieder nach vorn und verließ den Laden. Dumpf hörte ich hinter mir das Lachen der versammelten Mannschaft. Zügig ging ich zu meinem Auto. Hier würde ich nicht mehr halten und mehr als zwei, drei Fahrten wollte ich sowieso nicht mehr machen. Vielleicht würde ich nach diesem Job auch direkt aufhören. Ich wurde ja nicht bedroht oder so. Und ich hatte eigentlich genug Geld, um ein paar Wochen Urlaub zu machen, um mir endlich die neue Küche zu kaufen, die schon seit einem Monat eingekreist im Katalog wartete, und auch einen neuen Computer. Ich schloss die Fahrertür auf, stieg ein und fuhr weiter. Es waren nur noch dreißig Minuten bis zum Ort, wo ich alles abgeben würde. Die Fahrt war ruhig – nur wenig auf der gegenüberliegenden Seite, keine Polizei. Verkrüppelte Bäume zogen an mir vorbei und auch einzelne weitere Raststätten. Ich hatte doch alle Figuren, warum sollte ich dann noch fahren? Ich grinste.

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Hörbuchversion von Ruth
Noch mehr von der Persönlichkeit → Daniel G. Spieker