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Sie hatten sich eigentlich nie sonderlich umeinander gekümmert – als sie noch geliebt wurden. Und später, in diesem alten Koffer auf dem Dachboden, da war es auch eher ein gemeinsames Dahindämmern. Jahre vergingen, so schnell wie Wochen und Tage, und der Vulkanfiberkoffer mit den abgestoßenen Kunstlederecken und einem Aufkleber von ‘Marienbad’ überstand nicht nur einen Umzug ungeöffnet.
„Das ist Opas Koffer“, hieß es gelegentlich, wenn er denn unter dem Wust von altem Zeugs auftauchte. Doch nur zu bald geriet er wieder in Vergessenheit. Opa, der in seinem erlernten Beruf als Möbeltischler großes Ansehen genossen hatte und diesen Koffer schon während seiner Wanderjahre zu schätzen wußte, lebte seit dem Tode seiner Frau im Altersheim am Rande einer Großstadt, die er nie gemocht hatte. „Diesem Steinhaufen“, pflegte er zu sagen, „haben wir unser Dorf geopfert!“
Den aus wirtschaftlichen Gründen notwendigen Verkauf der Werkstatträume an einen Heimwerkermarkt nahm er seinem Sohn persönlich übel. Der hatte sich vom Erlös eine Polsterei eingerichtet, die er schließlich in den achtziger Jahren aus Mangel an Kunden aufgeben mußte. Später verlor er auch seine Anstellung in einer Möbelfabrik, weil die Produktion verlagert wurde, und war nunmehr seit einem Jahr arbeitslos. Auch für seine Frau, die als Kindergärtnerin eine Halbtagsstelle hatte, war abzusehen, wann die Tagesstätte aus Mangel an finanzieller Unterstützung schließen würde. Ihre Kinder, die Zwillinge Petra und Peter, teilten sich Zimmer, Computer und Joystick, was nicht immer ohne Ärger verlief. Doch hielten sich die Zwistigkeiten, dank des von Opa geerbten Fernsehgerätes älteren Datums, in erträglichen Grenzen. Vor diesem Hintergrund nun entwickelten sich die Ereignisse, von denen im folgenden die Rede sein soll.
Der Hausbesitzer hatte im Zuge der Schaffung von neuem Wohnraum beschlossen, den Dachboden ausbauen zu lassen und bei der Gelegenheit auch notwendige Reparaturen durchzuführen. Für die Familie, von der hier die Rede ist, bedeutete das neben einer leichten Mieterhöhung auch den Verzicht auf den bisher genutzten Abstellraum unter dem Dach des Hauses. Und so trug es sich zu, daß des Großvaters Koffer eines Tages wieder in das Licht familiären Interesses geriet. Er wurde geöffnet, was von den in solchen Fällen immer zufällig anwesenden Zwillingen mit wachsender Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen wurde.
„Kuck mal! Spielsachen von Opa!“
Und das hörte sich an, als sei es überhaupt eine absonderliche Vorstellung, daß es von Opa Spielsachen gab. Ganz zu schweigen davon, daß er auch einmal damit gespielt haben könnte.
„Igitt – der stinkt!“ rief Petra und hielt Ted in die Höhe.
„Was soll denn das sein?“ meinte Peter und deutete mit einem nicht sehr sauberen Finger auf den Magier. Spatz wurde gar nicht zur Kenntnis genommen.
Das aber war der Augenblick, an dem sich die drei Figuren im Koffer ihrer Existenz bewußt wurden. In diesem besonderen Falle allerdings nicht als Spielzeug, sondern als lebende Wesen. Es schien tatsächlich, als befähige sie die vor langen Jahren empfangene Liebe dazu, ihr Schicksal nun in die eigenen Hände zu nehmen. Denn nicht zu Unrecht schätzten sie die neue Situation als bedrohlich ein, was eine umgehende Beratung über die zu unternehmenden Schritte nahelegte. Und da gab es im Augenblick wohl nur eine Möglichkeit: Sie beschlossen, unsichtbar zu werden und entzogen sich so den Blicken und Gedanken der Familie. Das heißt, gedanklich hatten sich wohl weder die Zwillinge noch ihre Eltern mit Spatz, Ted und dem Magier beschäftigt. Für drei alte Figuren aus Stoff und Holz war kein Platz in den Köpfen und auch keine Liebe in den Herzen. Der Koffer wanderte auf den Müll, wo er seine Identität als ‘Opas Koffer’ endgültig verlor. Der Magier aber, der eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Clown hatte, machte sich mit Ted, dem Bär, und Spatz, der Ente, auf den Weg in eine Welt, die sich in mehr als achtzig Jahren verändert hatte, und die sie bald als Wegwerfgesellschaft kennen- und fürchtenlernen sollten.
„Die Welt gehört den Clowns!“ munterte der Magier seine beiden Freunde immer wieder auf . Doch von Tag zu Tag fiel es ihm schwerer. Denn wo immer sie sich auch nur kurzfristig zeigten, liefen sie sogleich Gefahr, in der Mülltonne zu landen.
„So geht das nicht weiter“, stellten sie schließlich gemeinsam fest.
„Nein! So geht das tatsächlich nicht weiter!“ wiederholte der Magier mit Nachdruck. „Wenn wir sie verändern wollen, dann müssen wir sie in Frage stellen.“
„Aber wir wollen doch nur, daß sie uns liebhaben!“ versuchte Spatz, der Feststellung des Magiers ein wenig die intellektuelle Schärfe zu nehmen.
„Eben, darum müssen wir sie in Frage stellen –“, entgegnete Ted, der gern die Gelegenheit wahrnahm, die klugen Worte des Magiers zu wiederholen, ohne sich aber festzulegen, wer denn in Frage zu stellen sei.
„Und wo fangen wir an?“ beeilte sich Spatz, auf die gemeinsame Linie einzuschwenken.
„Zuerst einmal müssen wir uns darüber klar werden, wen wir in Frage stellen wollen“, nahm der Magier seinen Gedanken wieder auf. „Die Zwillinge, die Familie oder die ganze Menschheit!?“
„Ich will, daß mich die Zwillinge liebhaben!“ entfuhr es Spatz etwas voreilig, und verunsichert wanderte sein Blick zwischen Ted und dem Magier hin und her.
„Wir müssen auch den Rest der Familie im Auge behalten“, gab Ted zu bedenken. „Die beiden Großen haben mehr zu sagen ...“
„Und wir müssen die allgemeine Situation in unsere Überlegungen mit einbeziehen“, steckte der Magier das Problemfeld großräumig ab. „Keiner mag uns! Wir sind alt, schmutzig und nichts wert.“
„Stimmt! ‘ne Käthe-Kruse-Puppe bist du nicht!“ Ted erntete für diese Bemerkung einen etwas irritierten Seitenblick des Magiers.
„Ich denke, jeder von uns weiß selbst, was er wert ist. Ich jedenfalls bin etwas wert. Die Zwillinge wissen es nur nicht, und das werde ich ändern!“ Spatz schaute mutig in die Runde.
Der Magier war sichtlich beeindruckt: „Du hast recht. Fangen wir mit den Zwillingen an. Ich muß mir da etwas einfallen lassen ...“
Gewiß, es war schon einige Zeit her, daß der Magier sich etwas