Tim der Nachbarsjunge

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von Daniel G. Spieker

Dass Tim von seinem Vater geschlagen wurde, hatte ich schon länger vermutet, aber erst als ich sah, wie sein Vater ihm eine Ohrfeige auf offener Straße gab, konnte ich sicher sein. Wie konnte man sein Kind schlagen? Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der Staat war nicht dazu imstande Kindern zu helfen; die Praktiken der Polizei und des Jugendamts waren mindestens fragwürdig.
Irgendwann als Tim zur Schule morgens gegangen war, hatte ich ihn abgefangen. Es war nicht schwer ihn zu erkennen, schlacksig, braune Haare, unbedruckte T-Shirts, irgendwie durchschnittlich, aber irgendwie durch seine Aura fiel er komplett aus der Masse heraus. Ich war auf ihn zugegangen und hatte gefragt, was bei ihm zu Hause los sei, aber er hatte mich einfach starr angesehen und war wenige Sekunden später weitergegangen. Diesem Jungen musste man helfen, er war wahrscheinlich schon so tief in diesem Problemhaushalt, dass er keinen Ausweg mehr sah. Ich wusste nicht mal wie alt er war, vielleicht 11, irgendwie so um den Dreh. Realschule, keine zwanzig Minuten von hier.
Ich grüßte ihn häufiger, versuchte immer mal wieder ein Gespräch mit ihm anzufangen, aber er sprach nicht, ging oft einfach weiter. Stumm? Stumm gemacht? Angst etwas zu sagen? Ich hörte nicht auf, ließ mich nicht entmutigen und merkte mit der Zeit, dass er mich mehr und mehr mochte. Immer wenn ich ihn sah, redete ich kurz mit ihm, und irgendwann hatte ich meine Switch mitgenommen und ein wenig mit ihm an der Bushaltestelle gespielt. Er hatte anscheinend keine Freunde, keine näheren sozialen Kontakte neben seinem Vater. Mit der Zeit pendelte sich ein, dass ich ihn Mittwoch morgens traf, ein wenig mit ihm spielte, er ging zur Schule und ich zu meinem Job als Kassierer. Wir kamen mit der Zeit immer ein wenig früher, sodass wir mehr Zeit zum Spielen hatten. Er sprach mit mir immer noch kein Wort, aber er nickte immer mal wieder oder schüttelte den Kopf.
In der Nachbarschaft hörte ich Gerüchte, dass die Mutter wohl einfach abgehauen war und man mit der Zeit immer wieder gesehen hatte, wie Tims Vater Tim schlug und schon tagsüber mit dem Trinken anfing. Es gab noch schlimmere Gerüchte, aber es war fraglich was davon wahr und was einfach eine Geschichte war, die immer und immer weiter durch jedes einzelne Weitererzählen verstümmelt worden war.
Es wurde kälter und wir trafen uns kürzer. Mittlerweile lief das schon seit über zwei Monaten und der November ging zu Ende, als ich ihn Mittwochs gar nicht mehr traf. Ich kam trotzdem jede Woche zu unserem Treffpunkt bei der Bushaltestelle, aber Tim kam einfach nicht mehr. Es machte mir Sorgen, so sehr, dass ich nun immer wenn es sich einrichten ließ, den Umweg zur Bushaltestelle nahm, aber Tim war nicht aufzufinden. Ich lief manchmal an Tims Haus vorbei und einmal sah ich ihn, durch die Vorhänge, im ersten Stock an einem der Fenster. Nur kurz, aber genug um zu wissen, dass er lebte. Das beruhigte mich. Was war passiert? Wurde er gezwungen, Zuhause zu bleiben?
Auf der Arbeit und nach Feierabend grübelte ich oft stundenlang, was genau dort passiert war und was ich tun konnte.

Es war der zweiundzwanzigste Dezember als ich mich entschied in den nächsten MediaMarkt zu gehen und ein Nintendo 3DS Bundle zu kaufen. Ich würde vorbeigehen und Tim das Geschenk überreichen, damit sein Weihnachten nicht komplett ins Wasser fallen würde. Etwas Sorge hatte ich, dass er dann gar nicht mehr zur Bushaltestelle kommen würde, weil er auch Zuhause spielen konnte, aber das Risiko wollte ich eingehen. Spiele hatten auch mir in meiner Kindheit geholfen, ein wenig herauszukommen, ein wenig Ablenkung von dem brutalen Alltag zu bekommen. Am Morgen von Heiligabend packte ich alles in eine große Geschenkbox und packte noch ein paar Süßigkeiten dazu, Gummibärchen, Schokolade, Kekse. Eine große Schleife noch darum und es sah aus wie ein Geschenk worüber ich mich selbst als Kind gefreut hätte. Ich hätte wahrscheinlich geweint, wenn ich damals etwas Äquivalentes geschenkt bekommen hätte.
Mit der Box unter dem Arm und einem Pfefferspray in der Jackentasche lief ich am frühen Abend langsam zu Tims Haus, sah mir die Lichterketten an, den Weihnachtsschmuck, der die Vorgärten des Städtchens schmückte. Ich war mir sicher, dass ich Tim eine Freude machen würde, nur der Vater … ich wusste nicht, wie der Vater auf mich reagieren würde, schließlich war er wahrscheinlich betrunken und ich wusste nur zu gut, dass solche Leute unberechenbar waren. Ich nahm das Päckchen in eine Hand und fühlte in meine Jackentasche, ob das Pfefferspray noch da war – es war da. Ein wenig Sicherheit.
Ich bog in die Straße ein in der das Haus stand. Der Garten war ungepflegt und auch wenn das Haus noch in gutem Schuss war, spürte man, dass sich niemand wirklich dafür interessierte. Während der Rest der Nachbarschaft hell erleuchtet und in Weihnachtsstimmung war, brannten hier nur ein paar triste Lichter hinter den Fenstern.
Die Vorgartentür stand offen und ich lief den Weg bis zu der Haustür, klingelte. Mein Herz schlug etwas schneller, ich wusste nicht, was mich erwarten würde.
Schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt und ich sah das kaputte Gesicht des Vaters; der Konsum hatte deutliche Spuren hinterlassen, mager, dicke Augenringe. Er roch nach Schnaps.
„Ich will ein Geschenk für Ihren Sohn abgeben.“
Er schaute mich nur irritiert an und keinen halben Gedanken später fing er an zu schreien, dass ich sein Grundstück verlassen sollte. Ich bewegte mich nicht und dann holte er aus und wollte mich schlagen. Mühelos fing ich seinen Hieb ab und schlug ihn zu Boden. Tränen schossen in sein Gesicht, er rappelte sich auf, lief verängstigt in das nächste Zimmer und ich hörte wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Einige Zeit lang horchte ich, ob er die Polizei rufen würde, aber wurde dann abgelenkt, als ich Tims Gesicht im Türrahmen gegenüber sah. Er lebte. Ein Stein fiel mir vom Herzen.
„Willst du mitkommen?“
Der Junge nickte.
Ich nahm den Jungen an der Hand, unter dem anderen Arm die Geschenkbox für ihn. Niemand war mehr auf den Straßen, alle waren bei ihren Familien, nur wir zwei, die keine hatten, waren unterwegs. Zuhause angekommen, bot ich dem Jungen einen Platz am Küchentisch an und machte dann Kakao für uns beide. Ich kam mit den dampfenden Tassen zurück und setzte mich zu ihm. Er pustete vorsichtig auf den Kakao und nippte nach einer Weile daran. Er wirkte gesund, etwas dünn, hatte wohl in letzter Zeit weniger zu essen bekommen, aber gesund. Zumindest das. An seinen Armen aber waren deutlich sichtbar blaue Flecken, doch nichts, was nicht verheilen würde.
„Willst du hierbleiben?“
Der Junge nickte.
„Dein Vater hat entschieden, dich nicht mehr zur Schule gehen zu lassen, oder?“
Der Junge nickte.
„Er schlägt dich. Es ist schlimmer geworden.“
Der Junge nickte.
„Hat er ...“ Ich zögerte. „Hat er dich hier angefasst?“ Ich zeigte vorsichtig auf meinen Schritt.
Der Junge nickte. Keine Regung in seinem Gesicht.
Ich reichte ihm die Geschenkbox.
„Mach auf.“
Er öffnete die Geschenkbox und ich sah wie er sich freute, in sein Gesicht kehrte etwas Leben zurück. Vorsichtig legte er die 3DS Verpackung auf den Tisch und legte die Süßigkeiten drumherum.
„Jetzt kannst du immer spielen.“
Der Blick, mit dem er mich ansah, war voller Dankbarkeit. Er musste nichts sagen, man spürte es.
„Du weißt, dass es hier nicht anders sein wird. Ich werde dich auch anfassen.“
Der Junge nickte.
„Du willst trotzdem bleiben? Ich werde dich nicht schlagen, niemals.“
Der Junge nickte.
Wir verbrachten auch die nächsten Tage zusammen und ich war die ganze Zeit noch unsicher, ob er wirklich hierbleiben würde, aber als er meine Hand ergriff, während wir durch das Fenster das Feuerwerk des neuen Jahres beobachteten, wusste ich, dass er bleiben würde.
Ein Lächeln zog über meine Lippen. Ich tat das Richtige.

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Hörbuchversion von Tim der Nachbarsjunge
Noch mehr von der Persönlichkeit → Daniel G. Spieker