Ich arbeite beim Jugendamt. Mittlerweile über dreißig Jahre, begleitet von Schicksalen. So viele Gesichter und immer wieder Tränen. Der ganze Beruf scheint ein einziges Tränenmeer zu sein.
Bald wäre das ganze endlich vorbei. Drei Wochen noch, dann würde ich vorzeitig in Rente gehen. Der Beruf hatte viel zu viele Narben hinterlassen.
Wir hatten bei der Zentrale einen vor Wochen anonymen Hinweis bekommen. Meistens sind das irgendwelche asozialen Nachbarn, die anderen etwas reinwürgen wollen, aber manchmal ist es eben wirklich etwas ernstzunehmendes.
Eigentlich wollte ich meine letzten Wochen mit Papierkram verbringen, aber aufgrund eines Ausfalls eines unserer Mitarbeiter, musste ich eben mal wieder ran.
„Nächster Halt: Waidembach. Endstation, bitte alles aussteigen. Wir wünschen allen Fahrgästen eine gute Weiterfahrt“, unterbrach die Sprechanlage mich. Ich stieg aus und ging in Gedanken noch einmal alles durch, was ich bisher recherchiert hatte. D
er Mann war verstorben, es ging um einen Sohn und eine Mutter, es war noch nicht einmal angegeben, was genau gemeldet wurde. Die Meldung selbst war sicher schon etwas mehr als einen Monat alt, aber es dauert eben, bis wir alles bearbeiten können. Die Behörde an der ich arbeite, ist für rund 10 Kleinstädte und ein paar Dörfer zuständig und chronisch unterbesetzt. Wie auch immer. Familie Rohrschac wohnhaft in der Pekuliar-Straße 14.
Waidembach gehörte nicht unbedingt zu den Städtchen, in denen wir oft waren, im Gegenteil, es gab nur sehr selten Fälle in Waidembach, weshalb ich auch nicht wirklich von einer wirklichen Problematik ausging. Das Haus war etwas von hier entfernt, aber ich kannte die Straße, weshalb es nicht so lange dauerte, bis ich vor dem kleinen Häuschen stand. Zwanzig gleichaussehende Häuser, das einzige was sie unterschied war von außen das Hausnummernschild. Ich hoffte, dass man mich einfach reinlassen würde, das würde die ganze Sachen vereinfachen. Extra wegen dieses Auftrages hatte ich mir einen Stapel Papiere mitgenommen, um irgendwie mehr wie eine Amtsperson zu erscheinen.
Ich klingelte bei Nummer 14 und es dauerte nur wenige Sekunden, bis eine Frau mittleren Alters aufmachte.
„Guten Morgen“, sagte sie leicht fragend, etwas verdutzt, wirkte kränklich.
Ich erklärte ihr die Lage, dass es diesen anonymen Hinweis gab und dass ich nicht glauben würde, dass es wirklich ein Problem gäbe und dass ich mich einfach nur einen Moment umsehen wollte.
„Kommen Sie ruhig rein, ich versteh das“, sagte sie und schniefte. „Entschuldigen Sie, habe mich bei meinem Sohn angesteckt. Und bitte entschuldigen Sie auch die Unordnung, ich habe keinen Besuch erwartet.“ Ich nickte und betrat ein Haus, welches wie aus einem Möbelkatalog hätte sein können. Sauber ist gar kein Ausdruck mehr, es war wirklich rein, ganz und gar rein. Die Luft war durchsetzt von einem penetranten Lufterfrischer, gemischt mit dem Geruch von diversen Reinigern.
Die Frau führte mich in den Wohnbereich an den Esstisch. „Möchten Sie etwas zu trinken?“, fragte sie lächelnd und ich bat um einen Kaffee. Sie schaltete die Maschine an und ließ die Kanne durchlaufen. „Milch oder Zucker?“, fragte sie, die Hand schon am Kühlschrank. „Schwarz reicht.“ Sie ließ vom Kühlschrank ab und drückte mir eine dampfende Tasse heißen Kaffees in die Hand und ich legte meinen Papierstapel ab.
Wir unterhielten uns eine Zeit lang über dies und das und ich hatte nicht wirklich den Eindruck, in einem Problemhaushalt zu sein.
„Frau Rohrschac, ich denke meine Arbeit ist hier getan. Ich glaube nicht, dass es hier irgendein Problem gibt“, sagte ich. Sie lächelte, doch plötzlich rief ein Kind. Anscheinend ihr Sohn, der aufgewacht war. „Einen Moment, ich komme gleich wieder“, sagte sie und kam mit einem etwas kränklich aussehenden Jungen im Schlafanzug zurück. „Das ist Mortimer, mein Sohn.“ Der Junge blieb stumm und sagte nichts. „Er spricht nicht gern vor Fremden.“ Der Junge setzte sich auf einen der anderen Stühle und sah zu seiner Mutter. „Ich mache nur schnell die Cornflakes für ihn, dann bringe ich Sie zur Tür.“ „Ich ziehe mir schon mal meine Schuhe an“, sagte ich, ging um die Ecke und streifte meine Herrenschuhe drüber und wartete einen Moment. Dann fiel mir auf, dass ich die Blätter vergessen hatte und ging noch einmal zurück.
Als ich um die Ecke bog, kroch mir ein ekelhafter Gestank in die Nase und ich musste mich fast übergeben, als ich sah, was die Mutter ihm kredenzt hatte. Die Cornflakes und die Milch waren von Schimmel überzogen.
Die Mutter sah zu mir und meinte lächelnd: „Möchten sie mit uns frühstücken?“
Wäre ich nicht zurückgekehrt, wäre es mir gar nicht aufgefallen und das Kind weiterhin dieser Frau ausgesetzt. Ich wusste nicht was schlimmer war, der Gedanke, dass es mir, wenn ich meine Papiere nicht vergessen hätte, nicht aufgefallen wäre oder die Selbstverständlichkeit mit der mir die Frau einen Moment später eine Frühstücksschüssel in die Hand drückte.
Das ganze ließ mich nicht los, weshalb ich weiter nachforschte und schließlich durch ein paar Anrufe, an ein paar Stellen, den anonymen Hinweisgeber herausfand. Es war ein Anruf aus dem Krankenhaus gewesen. Der Vater, der kurz darauf an einer Lebensmittelvergiftung gestorben war.
Anonymer Hinweis
von Daniel G. Spieker
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Hörbuchversion von Anonymer Hinweis
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