Die Akte

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von Daniel G. Spieker

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Als ich zum ersten Mal vor dem Gebäude stand, hatte ich schon ein Scheißgefühl. Nicht nur weil ich außer Atem war, da ich den ganzen Weg ziemlich zügig gelaufen war, sondern auch weil das ganze Haus eine merkwürdige Präsenz hatte. Die riesigen Glaswände der Großraumbüros waren mir immer schon unangenehm gewesen. Ich hatte mich auf eine Internetanzeige hin beworben, die jemanden suchten, der eines der Büros ausräumen sollte und einen Computer auseinanderbauen konnte. Nicht die Möbel sollten wegkommen, es ging vor allem um Daten – Akten, Festplatten, Papiere, alles, was irgendwelche Informationen beinhalten konnte. Nach einem kurzen Telefonat hatte man mir einen Schlüsselbund, eine Plastikkarte, um zu allem Zugang zu bekommen, einen Aktenvernichter, etwas Werkzeug, um sich der Daten auf den Festplatten zu entledigen und Instruktionen für all das per Post gesendet und sich telefonisch noch einmal vergewissert, dass ich es heute bis exakt zwanzig Uhr erledigen würde. Es war früher Nachmittag und die Sonne knallte herunter. Eigentlich hätte ich zehn Stunden für die Arbeit einplanen sollen, aber ich hatte verschlafen. Als ich aufgewacht war, hatte ich so schnell wie möglich eine große Kiste geschnappt und die ganzen Instrumente zur Datenvernichtung Zuhause gelassen, um etwas Zeit zu sparen. Nur einen Schraubenzieher hatte ich noch dabei, um die Computergehäuse aufzuschrauben.
Nachdem ich nach kurzer Zeit den richtigen Schlüssel am Schlüsselbund gefunden hatte, schloss ich das Gebäude auf und es war klar, dass hier seit Monaten niemand mehr gewesen war. Der Empfang war staubbedeckt und die Glasfronten des Hauses waren schmierig, wenn man genauer hinschaute. Ich sah mich nicht lange um, sondern nahm die Treppe neben dem Empfang und ging ins erste Geschoss, wo zwei Glasschiebetüren auf mich warteten, die sich erst öffneten, als ich die Plastikkarte auf einen Sensor legte. Dahinter machte sich ein gigantisches Großraumbüro breit – totenstill, jeder Schreibtisch acht Stunden Leben, jeden Tag, und dann nichts mehr. Jeder einzelne Tisch war exakt gleich ausgerüstet. 4:3 Monitor, ein kleines Computergehäuse auf dem Tisch, eine Maus samt Mauspad und eine Tastatur. Ich ging zu dem mir am nächsten gelegenen Schreibtisch und sah mir den Computer genauer an. Pentium 4 Prozessor, Windows XP Sticker, VGA Kabel. Das Büro war wahrscheinlich wirklich schon lange nicht mehr in Benutzung gewesen. Warum dann die Eile? Kam jetzt irgendein Gerichtsvollzieher oder sollte das Büro freigemacht werden für eine neue Firma? Aber warum sollte ich dann nur die Akten vernichten? Es konnte mir auch egal sein.
Ich lief durch die Reihen und es war überall exakt gleich. Neben den immer gleichen Reihen gab es ein paar angrenzende Räume, kleine verglaste Büros, in denen andere Computer, Aktenschränke und größere Schreibtische standen. Wie sollte diese eine Kiste denn reichen? Wie hätten überhaupt zehn Stunden reichen sollen? Ich ging zurück zum Eingang des Raumes, stellte die Kiste ab und schraubte den ersten Computer auf. Vorsichtig holte ich die IDE Festplatte heraus, legte sie in die Kiste, schloss das Gehäuse und ging zum nächsten Computer. Nach kurzer Zeit wurde ich achtloser und warf die Festplatten einfach und ging so Reihe um Reihe durch, bis die Kiste schließlich voll war. Ich war mittlerweile vollkommen verschwitzt und mein Smartphonebildschirm zeigte, dass es schon 15 Uhr war. Ich packte die Kiste, ging zum Bus, fuhr nach Hause, nahm den Aufzug zu meiner Wohnung, leerte drinnen alles auf dem Bett aus. Ich würde mindestens noch dreimal hin- und herfahren müssen und ich machte mir Sorgen, dass mein Auftraggeber irgendwie herausfinden könnte, dass ich länger brauchen würde und dass das dann Probleme geben könnte. Also beeilte ich mich, lief zügig zum Bus mit dem leeren Karton und fuhr wieder die vier Stationen zurück, nur um weiterzumachen. Nach einer weiteren Tour war ich endlich fertig mit den Festplatten im Hauptraum, die mittlerweile von dem Bett runterrutschten und überall in meinem Zimmer rumlagen. Jetzt ging es nur noch um die Akten und die paar Computer in den Nebenräumen. Diese waren wieder regulär abgeschlossen und ich brauchte abermals einige Sekunden, um den richtigen Schlüssel zu finden, aber schloss schließlich das erste der vier angrenzenden Büros auf. Der Sessel lud mich quasi dazu ein mich hinzusetzen und mich erstmal auszuruhen, aber mir lief die Zeit davon. Es war schon nach 17 Uhr. Ich kniete mich runter und wollte den Computer aufschrauben, als ich plötzlich ein Piepen hörte. Der Computer bootete. Ich hatte ihn noch nicht einmal angefasst, geschweige denn, auf den Powerbutton gedrückt. Ich stand gerade auf, da hörte ich auch schon die typische Windows XP Melodie. Neugierig setzte ich mich in den Sessel und schaute mir das genauer an. Ohne, dass ich etwas tat, bewegte sich der Mauszeiger und machte einen Doppelklick auf das Microsoft Word Icon. Word startete sich und dann schien irgendetwas zu tippen. Vollkommen irritiert sah ich zu wie sich Buchstabe um Buchstabe aneinanderreihte. Irritiert kniff ich die Augen zusammen.
»Ich habe lange gewartet. Aber endlich ist wieder jemand hier. Ich brauche deine Hilfe«, stand da schließlich. War das ein dummer Witz? Wurde ich gerade verarscht? Ich zog eine Augenbraue hoch. Der ganze Auftrag hatte ja seltsam gewirkt, vielleicht war das so eine dumme Show, in der Leute mit versteckter Kamera gefilmt wurden.
»Haha«, sagte ich und schaute mich um, ob es hier tatsächlich irgendwo eine Kamera gab, aber ich konnte keine entdecken. »Das ist kein Witz«, wurde auf dem Computer geschrieben. Was sollte das? Ich stand auf und verließ das Zimmer und wollte durch die zwei Glastüren marschieren, um draußen erst einmal den Kopf freizubekommen, aber die Türen blieben zu. Da bewegte sich nichts. Ich legte die Karte wiederholt auf den Sensor. Nichts passierte. Es war totenstill nur das leise Rauschen der Lüfter war zu hören, die plötzlich aufdrehten, als wollten sie, dass ich sie auf jeden Fall bemerkte. Jetzt hatte ich Angst und hielt einen Moment inne. Was, wenn das real war? Ich konnte hier nicht einfach die Tür einschlagen, ich hatte kein Geld den Schaden zu ersetzen. Zögerlich ging ich zurück. Jetzt stand noch mehr auf dem Bildschirm.
»Es tut mir leid, dass ich abgeschlossen habe, aber ich brauche wirklich deine Hilfe.«
»Kannst du mich hören?«
»Ja, kann ich«, wurde

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Hörbuchversion von Die Akte
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