Mutter, Vater, Angst

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von Daniel G. Spieker

Als ich vier Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal gesehen, wie mein Vater meine Mutter geschlagen hat. Ich habe das damals nicht verstanden.
Es ist meine früheste Erinnerung und ich weiß noch genau, wie mein Vater, als er mich bemerkt hatte, zu mir kam und mich aus dem Raum schob und immer wieder flüsterte, dass ich es vergessen sollte und dass so etwas nie wieder passieren würde.
Und es passierte auch lange Zeit nichts, doch irgendwann – es war nicht lange nach meiner Einschulung – sah ich es wieder. Und wieder. Ich verstand nicht, warum Erwachsene sich schlugen, aber ich spürte, dass es nicht richtig war. Natürlich auch weil ich meine Mutter manchmal weinen sah. Einfach so, wenn sie kochte, wenn sie von der Arbeit kam, wenn sie las. Ständig.
Ich kann an zwei Händen abzählen, wie oft mein Vater meine Mutter geschlagen hat, aber ich weiß nicht, wie oft es passiert ist, wenn ich es nicht mitbekommen habe. Erst am Ende wurde es immer offener und direkter. Irgendwann hatte ich meine Mutter gefragt und sie hatte nicht geantwortet. Ich hatte sie häufig gefragt, aber immer wendete sie sich ab und sagte nichts.
Es war als würde sie innerlich immer mehr verfallen, sie wurde allgemein viel stiller, je länger das mit meinem Vater ging. Er wurde immer lauter und sie immer leiser. Und irgendwann war sie einfach verschwunden. Von einem Tag auf den anderen war sie einfach weg und ist auch nicht wiedergekommen. Die Polizei suchte nach ihr und wir wurden gefühlt hunderte Male befragt. Irgendwann wurde klar, dass sie wegen meinem Vater geflohen war und das Jugendamt kam ein paar Mal vorbei.
Mein Vater hat mir während meiner ganzen Zeit nie irgendetwas angetan und ich glaube, dass ihm dann klar geworden ist, was er getan hat.
Ich hatte nie ein besonders inniges Verhältnis zu ihm, und bin früh ausgezogen. Er hat mich finanziell unterstützt, während meiner Ausbildung zur Buchhändlerin, und zu Weihnachten und den Geburtstagen haben wir telefoniert. Ich wohnte nicht weit weg, nicht einmal eine ganze Stunde, aber es gab einfach keinen Grund sich zu treffen.
Als ich erfahren hatte, dass er gestorben war, war mir erst wirklich bewusst geworden, was für ein schwaches Band wir gehabt hatten. Ich war nicht wirklich traurig, nicht direkt, aber irgendwo hinten in meinem Kopf entfaltete sich ein trockenes, kaputtes Gefühl, dass nicht verschwinden wollte.

In meinem Leben hatte es nie wirklich einen Mann gegeben mit dem ich gut klar kam. Auf Dauer gesehen, waren sie alle irgendwie darauf bedacht mich fertig zu machen. Meistens psychisch, einige physisch. Ich zog sie magisch an, anscheinend. Aber zumindest trennte ich mich meist sehr schnell, weil ich nie eine wirklich tiefe Beziehung zu ihnen aufgebaut hatte. Es war halt eine schöne Zeit und dann nicht mehr und dann waren sie weg.
Und das änderte sich mit dem Tod meines Vaters. Es war tatsächlich der Grabredner, der mich einige Wochen nach der Beisetzung anrief.
„Möchten Sie, es tut mir leid, dass ich Sie frage, ich … möchten Sie vielleicht einmal mit mir Essen gehen?“ Ich war sehr überrascht über die Frage, aber er war mir sympathisch und so trafen wir uns. Und schnell wurde daraus mehr. Markus war zwar knapp zehn Jahre älter als ich, aber zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mich jemand wirklich verstand. Vielleicht war es der Altersunterschied, den ich gebraucht hatte. Anfangs schämte ich mich etwas dafür, aber meine paar Freunde hatten kein Problem damit, und meinen Eltern vorstellen musste ich ihn nicht.
Wir zogen zusammen – in das Haus aus meiner Kindheit und trugen erst einmal alles was wir nicht mehr in der Wohnung haben wollten, auf den Dachboden, die Bilder, das Klavier, die Tische und Stühle, alles. Es war perfekt, ich konnte weiter als Buchhändlerin arbeiten, wir hatten mehr Platz und auch er konnte seinen Beruf weiter ausüben. Und irgendwann wurde ich schwanger. Vielleicht war es das, was mich bei ihm hielt … Er war nicht glücklich darüber, aber er akzeptierte es.
Wir heirateten bald, ein wenig weil er das so wollte, er war da sehr traditionell, und nicht einen Monat nach der Hochzeit fing es an, eines Abends, als er getrunken hatte. Er hatte mich angeschrien und ich war weggelaufen, hatte einfach die Tür aufgemacht und war ins Auto gestiegen und bin weg. Irgendwann rief er mich an und entschuldigte sich und ich verzieh ihm. Vielleicht war es die Angst wegen dem Kind, ich weiß es nicht. Ich konnte kein Kind allein großziehen, das würde nicht klappen. Und es passierte wieder und wieder und jedes Mal entschuldigte er sich, bis er sich nicht mehr entschuldigte. Wenn er anfing rumzuschreien, lief ich weg, versteckte mich im Haus – unter dem Bett, im Bad, im Schrank, überall. Und irgendwann hatte er sich beruhigt und wir kamen irgendwie miteinander aus. Ich wusste nicht, was los war, was das Problem war, ob ich irgendetwas falsch gemacht hatte. Zum ersten Mal fühlte ich mich schwach und ich wusste, dass es am Kind lag. Ich spielte mit dem Gedanken es abzutreiben, aber das wollte ich nicht. Ich wollte kein Kind abtreiben und es war auch legal gar nicht mehr möglich. Die zwölf Wochengrenze war weit überschritten. Aber doch sah ich ab und an im Internet nach und er fand das wieder raus. „Du willst unser Kind töten, du willst unser Kind töten!“, hatte er geschrien und mich so fest geschlagen, dass ich mich am nächsten Tag krankgemeldet hatte, weil die Spuren zu stark sichtbar waren. Und ich schämte mich. Schämte mich für meine Beziehung, mein Kind, wie ich mich verhielt und ich kam da nicht mehr heraus. Ich hatte seit Wochen keinen Kontakt mehr zu meinen Freunden gehabt, einfach nur aus Angst, dass irgendwem irgendetwas auffallen könnte. Für die Arbeit und alles andere lernte ich schnell wie man blaue Flecken überschminkte und ich fand auch schnell bessere Verstecke, aber es wurde schlimmer und schlimmer und ich wusste nicht, wie das werden sollte, wenn unser Kind auf der Welt wäre. Wie sollte ich das einem Fünfjährigen erklären? Wie konnte man das überhaupt irgendjemandem erklären?

Ich bin jetzt ungefähr im achten Monat und er hat mir heute in den Bauch geschlagen. Ich habe geblutet und bin zum Arzt, habe mich untersuchen lassen, aber zumindest geht es dem Kind gut.
Er hat mich natürlich gefragt, woher meine blauen Flecken kommen, aber ich habe einfach gesagt, dass ich gestürzt bin. Sein Gesichtsausdruck hat Bände gesprochen, wahrscheinlich war ich nicht die erste Frau, die ihm das erzählte. Es kommt ja nicht selten vor.
Ich hoffe, dass er nicht die Polizei benachrichtigt und irgendwie hoffe ich, dass er es doch tut.
Auf dem Weg nachhause haben sich viele meiner Gedanken verändert, ich bin plötzlich absolut fokussiert gewesen. Ich muss weg. Und dann habe ich angefangen zu packen. Es ist keine große Tasche, aber das Nötigste ist drin. Ich weiß, dass ich verschwinden muss. Ich weiß nicht wohin, aber ich weiß, dass ich wegmuss. Vielleicht zur Polizei, vielleicht ein Frauenhaus, ein Hotel, keine Ahnung, Hauptsache weg. Ich sehe mich noch einmal kurz um, halte einen Gedanken lang inne und will schon zur Tür gehen, als ich sehe, wie in der Einfahrt Markus vorfährt.
Normalerweise würde er erst in drei Stunden nach Hause kommen. Erst überlege ich, ob ich den Koffer verstecke, aber es wird ihm auffallen – allein weil ich Geld genommen habe. Ich laufe die Treppen hoch in den ersten Stock, verstecke mich im Schrank und warte, bis er zur Tür reinkommt. Keine Minute später höre ich, wie er ruft. Ich verstehe durch die Schranktür nicht genau was er sagt.
Mir wird klar, dass ich aus dem Schrank raus und ein anderes Versteck finden muss, aber ich weiß nicht wohin, doch dann fällt mir der Dachboden ein. Langsam schleiche ich aus dem Schlafzimmer und nehme die Treppe hoch und schließe so leise wie möglich die Luke. Danach stelle ich nacheinander schwere Dinge darauf und schiebe schließlich sogar das alte Klavier darauf. Hauptsache er kann es nicht öffnen.
Ich merke, dass ich sogar versuche leise zu atmen und ich spüre, dass ich weine. Wie konnte ich mich in einem Menschen so täuschen. Unten höre ich, dass er herumschreit und ich habe zum ersten Mal wirklich Todesangst. Ich weiß, das ich wegmuss, aber auf dem Dachboden ist kein Fenster. Ich muss warten, bis er endgültig weg ist. Ich setze mich auf den Boden und halte meinen Bauch. Plötzlich merke ich, dass er versucht die Luke aufzuschieben, aber es gelingt ihm nicht. „ICH KRIEG DICH DU FOTZE“, schreit er und dann höre ich nur, wie er die Stufen herunterläuft. Langsam schiebe ich mich Stück für Stück ins Dunkle, immer die Luke im Blick, obwohl ich weiß, dass ich hören würde, wenn er wiederkommt. Irgendwann stoße ich an die Wand. Mir ist kalt. Ich zittere.
Und dann höre ich hinter mir eine leise Stimme, die mir seltsam vertraut vorkommt:
„Ist es jetzt sicher?“

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