Zeit im Kopf

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von Daniel G. Spieker

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"Entschuldigen Sie meine 5 Minuten Verspätung", sagte der Arzt. Es waren 6 Minuten und 3 Sekunden, aber ich sagte nichts. "Also, wo drückt denn der Schuh?"
"Ich habe zu viel Zeit."
"Sie kommen hierher um Ihre Zeit zu verbringen? Sind Sie nicht etwas jung dafür?" Er legte seine Stirn in Falten.
"Nein, ähm … Ich kann Zeit genau bestimmen. Quasi eine Uhr im Kopf. Aber sie funktioniert nicht mehr richtig."
"Wie meinen Sie das? Eine Uhr im Kopf?" Ich erzählte ihm, dass ich, seit ich klein war, immer genau wusste wie viel Zeit an einem Tag vergangen war. Ganz ohne Uhr.
"Und jetzt?"
"35 Sekunden zu viel gestern. Am Tag davor 17 Sekunden zu viel." Ich hatte es erst gestern bemerkt, nachdem ich meinen Sohn zu meiner Exfrau gebracht hatte. Wie lange es genau ging, wusste ich nicht; irgendwann am Wochenende musste sich etwas geändert haben. War es eine Art Erkältung, die noch nicht ausgebrochen war? Ich hatte ja die ganze Zeit mit ihm Zuhause verbracht und Kinder hatten häufig Krankheiten. Aber bisher hatte eine Krankheit nie Einfluss auf diese Fähigkeit gehabt. Nach einiger Ratlosigkeit schickte mich der Arzt weg, aber empfahl mir davor eine Uhr zu kaufen.
Uhr im Kopf. Kein bekanntes Phänomen.
Eine Uhr also. Ich hatte nie eine Uhr gebraucht, aber ich würde mir eine holen. Ich war kein Uhrmacher, auch wenn das nahelag, sondern investierte in diverse Unternehmen. Nicht, dass ich es nicht probiert hätte. Du kannst eine Uhr extrem genau stimmen, aber eine minimale Kulanz muss man in Kauf nehmen. Nicht die körperlichen Fähigkeiten besitzen es ganz genau zu machen, machte mich rasend.
Der Uhrladen war eine Katastrophe. Als ich eine Uhr entdeckte, die ganze drei Sekunden nachging, wollte ich schon gehen, aber ich wurde angesprochen. "Kann ich Ihnen helfen?" "Ich suche eine Uhr." Er grinste. Das hörte er wohl öfter. "Sie muss zu hundert Prozent genau sein." "Eine Funkuhr?" "In Ordnung, aber ohne Kulanz." "Die Kulanz beträgt im Schnitt einige Millisekunden. Das ist, denke ich, doch verschmerzbar." Ich schüttelte den Kopf. Seine Gedanken schienen mir plötzlich offenzuliegen. Was für ein anstrengender Kunde. Konnte er nicht einfach eine Uhr kaufen und dann verschwinden? Nach längerem hin und her empfahl er mir eine Uhr, die als extrem genau galt und die Millisekunden, die sie danebenlag, waren nicht einmal zweistellig. Schließlich kaufte ich sie und ging nach Hause. Meine karge Zweizimmerwohnung. Mehr war nach den Alimenten nicht drin gewesen. Als ich ins Wohnzimmer trat, stolperte ich über ein Spielzeugauto meines Sohnes. Ich hatte wohl vergessen es wegzuräumen. Ich legte es auf den Esstisch und setzte mich auf die Couch.
Ich starrte auf die Funkuhr. Sah wie sich in gleichen Abständen die Zahlen änderten. 8 Sekunden zu wenig. Es machte mich verrückt.
Ich verließ das Haus, um den Kopf freizubekommen und warf die Uhr in den nächsten Mülleimer. Es half ein wenig an der frischen Luft zu sein. Ich überlegte, was ich tun könnte. Abstellen konnte ich es ja nicht; es irritierte mich nur dauerhaft. Ich ging in das nächstgelegene Internetcafé. Die Anzeige der Atomuhr hatte ich noch nicht betrachtet. Ich suchte kurz nach einer Website und wurde schnell fündig.
17,326 Sekunden zu viel in meinem Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich stand auf und ging zu dem gelangweilt aussehenden, jungen Mann, der die Kasse verwaltete. „Computer 4.“ „Das macht dann 2 Euro“, sagte der Mann. „Ich war keine fünf Minuten dran.“ „Zwei Euro ist der Preis pro angefangene Stunde.“ Ich wollte nicht diskutieren und gab ihm das Geld.
Ich ging nach Hause und glich immer wieder Uhren mit meiner Kopfzeit ab. Bisher passierte nichts. Keine weitere Extrasekunde. Doch gegen 23 Uhr begann es. 2 Sekunden extra. Die Zeit auf der Uhr lief langsamer als die in meinem Kopf.
Am Ende des Tages waren es fast 20 Sekunden.
Am nächsten Tag beobachtete ich erst wieder die Zeit, aber ich merkte, dass es mich auffraß. Ich beschäftigte mich nur noch damit. Ich entschied mich etwas Zeit in einer Kneipe zu verbringen. Wenn ich schon nichts anderes tat, als auf die Uhr zu sehen, konnte ich wenigstens unter Leuten sein und etwas trinken.
In meiner Stammkneipe „Weißkopf“ war um diese Zeit nicht viel los. Ich bestellte ein Bier und der Wirt schenkte mir ein. Er murmelte etwas und heftete seinen Blick an die Übertragung auf einem Fernseher, der über der Bar hing.
Um 15:20:56 war es zum ersten Mal wieder soweit. Eine Sekunde. Doch ich bemerkte es nicht, weil ich auf die Uhr gesehen hatte, sondern weil für einen Moment die Welt um mich herum einzufrieren schien. Für einen Moment stockte die Bewegung des Wirts. Mehr hatte ich in der Zeit nicht wahrgenommen und ein Blick auf eine Uhr bestätigte mir, dass mein Zeitgefühl nicht mehr mit der Welt übereinstimmte (auch wenn ich die letzten Tage herausrechnete). Ich verließ die Kneipe und wartete draußen auf einer Metallbank. Es dauerte lange, aber um 17:28:02 fror die Welt wieder ein. Alle Menschen in der Fußgängerzone blieben für einen Moment stehen und ich starrte sie an. Eingefrorene Gesichter. Leute am Telefon, Leute, die Kaffee tranken, Leute, die bei einem Stand etwas kauften. Wie schockgefrostet. Der Moment war viel zu schnell vorüber, aber die Ahnung, die ich in der Kneipe hatte, wurde für mich nun zur Wahrheit. Was war der Grund dafür?
Ich wollte die Umgebung weiter beobachten. Wollte mehr wissen.
Der nächste Zeitstopp fand nicht viel später statt. Um 17:33:49 fror die Welt wieder ein. Alle Menschen froren ein, bis auf ein einzelner. Ein älterer Mann im Anzug war nicht eingefroren; er bewegte sich einfach weiter. Ich fixierte ihn und als sich die Welt nach 2 Sekunden wieder in Bewegung setzte, stand ich auf und folgte ihm. Ich entschied mich schnell.
Ich griff ihn an der Schulter und er drehte sich um. "Was wissen Sie darüber?" Sein Gesicht setzte keine Mimik auf, die ich erwartet hatte – Verwirrung, Erleichterung oder Erstaunen – sondern Wut. Er packte mich an meinem T-Shirt und presste mich gegen das nächste Schaufenster. "Kriech' zurück in dein Loch“, zischte er. Dann ließ er mich los und ging weiter. Ich rappelte mich auf. Niemand schien sich wirklich für den

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Hörbuchversion von Zeit im Kopf
Noch mehr von der Persönlichkeit → Daniel G. Spieker