Zeit im Kopf - Page 2

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von Daniel G. Spieker

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Vorfall zu interessieren. Einige sahen verstohlen zu mir, aber sonst passierte nichts. Der Mann im Anzug verschwand in der Menge. Ich ließ von ihm ab. Wenn ich ihn weiterverfolgen würde, würde er sicher noch um einiges wütender werden. Doch eine Erkenntnis hatte ich: Es gab weitere wie mich.
Ich setzte mich wieder auf eine Bank mit einem Kaffee, der mich wärmte und wartete weiter ab. Gegen 19:32:42 stoppte die Zeit wieder und ich ließ meinen Blick schweifen, suchte nach einer Bewegung. Eine Frau, knapp dreißig, konnte ich ausmachen. Ich sprach sie nicht direkt an, wollte sie nicht verschrecken, sondern folgte ihr verdeckt.
Sie ging durch die Hauptstraße über die Brücke zu der U-Bahn-Station. Sie stieg die Treppen nach unten und in die Bahn Richtung Weidembach und ich ging hinterher. Ich setzte mich so, dass ich genug Abstand hielt, sie aber beobachten konnte. Sie wirkte ganz normal, tippte auf einem alten Smartphone herum, kramte ab und an in ihrer Tasche. Nichts was sie in irgendeiner Weise unterscheiden würde. Wieder ein starrer Moment. 19:50:12. In meinem Innern liefen die Sekunden weiter. Eine, zwei. Dann alles wieder in Bewegung. Sie tat auch in dieser Zeit (oder Nichtzeit) nichts besonderes, sondern hatte einfach mit ihrem Smartphone weitergemacht.
Ich entschied mich schließlich dafür, mich zu ihr zu setzen, als wir eine weitere Station passierten. "Sie können sich auch in der Zeit bewegen", sagte ich irgendwann – wie nebenbei. Sie runzelte die Stirn. "Klar. Hast du wen gefunden?" Sie sagte das auf eine so selbstverständliche Art, dass ich vollkommen verwirrt war. Sie bemerkte meinen Blick. "Warten Sie … Sie sind einer von denen, die wir suchen. Ich dachte nicht…" "Suchen? Wofür suchen?“ "Um Sie wegzubringen, natürlich." Sie lächelte und griff nach meiner Hand. Entgeistert versuchte ich meine Hand aus ihrer zu lösen, aber ihr Griff war fest. Schließlich riss ich mich los, stand auf und lief von ihr weg. "Bleib hier", rief sie, stand auf und lief mir hinterher. Die verrückte Fotze sollte mir nicht zu nahe kommen und ich hoffte einfach nur, dass die Bahn bald halten würde. Ich war fast am Ende des Wagens angelangt, als die U-Bahn endlich hielt.
Die Frau folgte mir nicht mehr, sondern stand mit einigem Abstand zu mir und starrte mich an. Die mechanischen Türen öffneten sich und ich wollte mich durch die Menschenmasse quetschen, die draußen wartete, doch plötzlich wurde ich festgehalten. Mehrere Männer und Frauen griffen nach meinem Arm, hielten mich fest. Erst dachte ich, dass jemand mich gestreift hatte, aber die Leute griffen nach mir und starrten mich allesamt direkt an.
Doch ich schaffte es mich loszureißen, rief laut nach Hilfe und rannte atemlos weiter. Niemand kam mir zur Hilfe.
Ich hastete die Stufen der U-Bahnstation hoch, spürte die Verfolger in meinem Nacken. Den letzten Meter zog ich mich am Geländer hoch, sprang über die letzte Stufe und rannte über die Straße, ohne auf die Ampel zu warten. Ich kam heil über die Straße und verschwand in einer Seitengasse. Es fühlte sich an, als würde meine Lunge zerreißen, aber ich hörte nicht auf ehe ich mir sicher war, dass sie verschwunden waren.
Ich lehnte mich an eine kalte Steinmauer im Schatten und atmete erst einmal tief durch, wartete darauf, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Dass ich über die Straße heil gekommen war, machte mir plötzlich Angst. Die Straße war doch stark befahren. War die Zeit stillgestanden? Ich blickte zur nächsten Uhr, die ich ausmachen konnte. Zwei Minuten! Verdammt noch einmal zwei Minuten! Aber so viele hatten sich bewegt? Waren sie alle Teil von dieser Gruppe?
Es dauerte lange bis ich mich beruhigt hatte und mich vorsichtig wieder aus meinem „Versteck“ heraus traute. Niemand war zu sehen.
Ich nahm den nächsten Bus nach Hause. Als ich in meine Zweizimmerwohnung zurückkehrte und meine Sachen aus meinen Taschen auf die Kommode legen wollte, fiel mir auf, dass meine Geldbörse fehlte. Auch das noch. Ich ließ von der Kommode ab und ging in mein Schlafzimmer – vielleicht lag sie irgendwo dort.
Erst bemerkte ich es nur im Augenwinkel, doch dann sah ich genauer hin. Durch das Fenster sah ich, wie mich ein Mann anstarrte. Langsam schritt ich zurück und sah wie der Mann nun auf die Eingangstür zuging. Ich musste verschwinden, bevor er die Tür erreichte. Einfach weg aus der Wohnung. Aus der Haustür heraus, der Mann keine 20 Meter entfernt. Ich konnte dem Mann gerade so entwischen, wechselte immer wieder die Straße und Straßenseite. Ich atmete einen Marathon, bevor ich, gestützt an eine schlechtverputzte Wand, verschnaufte und überlegte.
Ich hatte kein Geld. Keine besonders guten Freunde. Was blieb dann noch?
Ich entschied mich zur Polizei zu gehen, auch wenn ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Die Station war nicht weit entfernt. Nach einer knappen Minute kam sie in Sichtweite. Ich ging hinein und sprach mit einem jungen Beamten und versuchte meine Lage zu erklären. Ich erzählte nur, dass ich verfolgt wurde. "Kommen Sie mit, wir klären das am besten in einem Nebenzimmer", meinte der Beamte und ich folgte ihm. Wir schlängelten uns an Männern und Frauen vorbei und als der Beamte gerade durch eine Tür in einen anderen Raum schritt, stand die Zeit wieder still. Ich sah, dass der Beamte vor mir erstarrte, aber ein anderer bewegte sich, wie ich im Augenwinkel sah. Zu hundert Prozent war ich mir nicht sicher, wollte mich aber nicht verraten, in dem ich mich selbst bewegte. Ich spürte, dass jemand näher kam, sah wie die Person an mir vorbeilief. Nicht atmen, keine Regung. Dann setzte sich die Welt wieder in Bewegung. Ich verabschiedete mich eilig von dem Beamten und verließ das Präsidium wieder. Den Rest der Nacht verbrachte ich damit durch die Stadt zu laufen und ab und an stehenzubleiben. Sonst nichts. Laufen. Stehenbleiben. Es wurde häufiger und länger. Nach Hause konnte ich nicht.
Als der nächste Tag anbrach, spürte ich wie müde mein Körper mittlerweile war.
Ich sah zu wie die Stadt erwachte.
Die ersten Läden wurden geöffnet, der Verkehr nahm zu, die großen Reklametafeln wurden eingeschaltet. Ich sah ein Bild einer Frau auf der Reklametafel. Darunter ein Schriftzug: "LAURA WEISS KOMMEN SIE UM 16 UHR ZUM MAIK-WECHSLER-PLATZ". Das Bild wechselte zu einem älteren Mann. Ein anderer Name, aber die Aussage war dieselbe. Und dann ein Bild von mir. Selbe Aussage. Mein Herzschlag schien aus dem Takt zu geraten. Irgendjemand wollte mich fertigmachen. Irgendjemand kannte und verfolgte mich. Und dann dachte ich an meinen Sohn.
Ich lief zum nächsten Taxi, stieg ein und ließ mich zu meiner Exfrau fahren. Jemand wollte mich fertigmachen – da würden sie vor meiner Familie nicht halt machen. Es dauerte eine knappe halbe Stunde, bis ich den Stadtteil erreichte. Ich war nervös, weil ich kein Geld hatte, aber das war egal. Ich kramte in meinen Taschen und suchte nach etwas dass ich im Taxi liegenlassen konnte, aber fand nichts. "Halten Sie bitte hier", sagte ich und als der Wagen noch nicht ganz stillstand, stieg ich ungelenk aus und lief los. Der Taxifahrer sagte kein Wort und auch mein Blick nach hinten zeigte mir, dass er mir nicht nachrannte. Er telefonierte - wahrscheinlich mit der Polizei. Ich war sicher nicht der erste.
Ich wechselte die Straße ein paar Mal, bevor ich die Wohnung von meiner Exfrau ansteuerte. Es war ein Vorort und die Reihenhäuser glichen einander aufs Haar.
Noch war niemand von ihnen da. Früh genug. Ich klingelte. "Wer ist da?", tönte es aus der Gegensprechanlage. „Hey, ich bin's.“ "Oliver? Deine Zeit mit Tom ist erst nächste Woche." "Ich weiß, kann ich Tom nur kurz sehen?" Im Hintergrund hörte ich eine Männerstimme. Ein kurzes Gespräch, aber ich verstand nichts. "Ich will ihn doch nur kurz sehen – Sandra, bitte." "Was ist los Oliver?" "Ist nicht wichtig, ich will doch nur kurz meinen Sohn sehen." "Fünf Minuten, ok?" "In Ordnung." Ein Summen ertönte und ich drückte die Tür auf. Ich stieg die Stufen des Reihenhauses nach oben und ging zu der Wohnung. Ich begrüßte knapp einen Mann, den ich nicht kannte und meine Ex. "Wo ist er?" "Er ist in seinem Zimmer - wir wollten in 20 Minuten eigentlich los zum Kindergarten." "Gib mir nur ein paar Minuten bitte." Sie nickte. Ich ging in das Zimmer und dieses Mal hoffte ich wirklich auf einen Zeitstopp. Doch es kam keiner. "Hey Tommy", sagte ich leise und er lächelte mich an. Er spielte gerade mit seinem Puppenhaus. Ich hob ihn hoch, setzte ihn auf meinen Arm. Sandra stand noch in der Tür und schaute mir über die Schulter. Der Typ war anscheinend in ein anderes Zimmer gegangen. Ich ging mit Tom auf dem Arm näher zu Sandra. "Meinst du, ich kann ihn zum Kindergarten bringen?", fragte ich. "Zum Kindergarten?" "Ja, ich fände das wirklich schön. Es ist irgendwie seltsam nichts mit seinem Alltag zu tun zu haben." "Willst du jetzt jede Woche vorbeikommen oder was?" "Nein, nur einmal." Sie war unsicher. Ich trug Tom an ihr vorbei in den Flur. "Ich will ihm nur schon einmal die Schuhe anziehen." Und das tat ich auch, während sie immer noch unschlüssig zu sein schien. "Ich weiß nicht Oliver..." "Kein Problem ich mach das heute", sagte ich einfach, machte die Tür auf und ging nach draußen. Sie hielt mich nicht auf. Ich hatte meinen Sohn ja nicht entführt oder sonstiges, sondern war einfach etwas dreist gewesen. Hoffentlich würde ihr nicht auffallen, dass ich gar nicht wusste, wo sein Kindergarten war.
Ich stieg in den nächsten Bus und fuhr mit der U-Bahn weiter. Auf meinem Arm war Tom eingeschlafen. In dieser Stadt lief irgendetwas schief. Ich würde im Bahnhof in den nächsten Zug steigen, einige Stunden fahren und irgendwo aussteigen und mich verstecken bis dieser ganze Spuk sich aufklären würde. Um zu den Fernzügen zu kommen, müsste ich nach oben. Ich hatte Angst, dass in anderen Städten dasselbe Problem wäre, aber es würde sich alles aufklären, da war ich mir sicher. Ich war gerade in der Vorhalle, als die Zeit wieder anhielt. Ich hielt still, aber Tom wachte auf. Er hatte auch diese Fähigkeit? Er bewegte sich und sah mich an, nuschelte etwas. Ich sah ihn an und wurde nervös und schließlich sah tatsächlich einer der Bewegenden, dass mein Sohn nicht eingefroren war. Ich schaltete direkt und rannte los. "Warten Sie", wurde uns noch hinterhergerufen. Ich musste Tom in Sicherheit bringen. Ich rannte durch die Halle, bog ab zu den Schließfächern und setzte ihn in eines der Fächer, warf Geld ein, schloss es zu und zog den Schlüssel. Ich würde meine ganze Bewegungsfreiheit brauchen. Direkt lief ich wieder los, um nicht zu verraten in welchem Schließfach mein Sohn versteckt war. Ich wollte mich diesen Wichsern stellen – ich verließ den Raum mit den Schließfächern, trat in die Haupthalle des Bahnhofs und sah mich drei Männern entgegen "Verpisst euch!" Einer kam auf mich zu und ich wollte mich gerade vorbereiten, doch plötzlich wurde ich von der Seite von einer Frau berührt. Ich riss mich los. "Bleiben Sie stehen!", rief einer der Männer. Ich rannte die Treppe zu den U-Bahnhaltestellen herunter. Bloß von meinem Sohn ablenken. Doch dort standen wieder Leute. Einer hatte ein Metallobjekt in der Hand, was ich nicht identifizieren konnte. Weitere zogen glänzenden Stahl hervor. Sie zielten auf mich und keine Sekunde später war alles schwarz.

Es wurde von einem Blitz gesprochen; dass sagen zumindest die anderen. Die Zeit sei lange stillgestanden. Es soll nicht nur einen Blitz gegeben haben sondern tausende, überall.
Wo ich bin, weiß ich nicht. Und ich weiß auch nicht, was mit der Welt passiert ist. Sie wollen uns nichts Böses. Sie sprechen von Potentialen in uns.
Aber das einzige, was ich spüre, ist der Schlüssel des Schließfachs in meiner Tasche, der jede Minute schwerer wiegt.

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Noch mehr von der Persönlichkeit → Daniel G. Spieker