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dein Wohl Mathias! Huuhh, ist der aber scharf! Nachspülen, sofort mit dem Bier nachspülen, das ist die beste Methode, sagte ich zu ihr. Zur Bedienung: Nochmal zwei Maß und zwei Obstler, bitte, weil, auf einem Bein steht man nicht! Irmhild pflichtete mir bei mit: „Auf einem Bein steht man nicht und auf zwei Beinen steht man glücklich oder unglücklich!
Ich fragte Irmhild: „Wie ist denn deine Amerika Kreuzfahrt verlaufen?“ So wie eine Kreuzfahrt entlang der Ostküste in die Karibik halt verläuft, antwortete sie ohne jede Begeisterung. Baltimore, Norfolk, Charleston, Karibik, Curacao, Aruba, zurück nach Miami und dann, sie zuckte ein paar mal mit den Schultern, dann nichts, nach Hause. Ihr Blick ging dabei an mir vorbei irgendwohin in die Ferne.
Die Bedienung stellte den Schnaps und das Bier auf den Tisch. „Und dann nichts“, sagte Irmhild wieder. Sie nahm den Schnaps, kippte ihn hinunter und trank mit dem Bier kräftig hinterher. Ihr Verhalten war irgendwie seltsam und ich fragte, ob sie Probleme habe. Nein, ich habe keine Probleme, ich bin nur ein schlechter Mensch, antwortete sie lakonisch in die Ferne schauend.
Ich protestierte und gab ihr zu verstehen, dass das nicht wahr sein kann, weil, wer sich in Philosophie auskennt und Musik macht, überhaupt kein schlechter Mensch sein kann. Das bestätige indirekt der Ausspruch des Philosophen Friedrich Nietzsche: Böse Menschen haben keine Lieder, schreibt er.
Sie nahm noch einen kräftigen Zug aus dem Maßkrug und lallte schon mit schwerer Zunge: „Eine Lage geht noch, dann bin ich fertig. Fertig mit diesem beschissenen Leben. Hallo, Bedienung, bringen Sie uns noch einen Schnaps und noch eine Maß, zum sterben bitte.“
Ich wurde wütend und fuhr sie an: „Erklär mir jetzt bitte, sofort, warum eine junge Frau, eine begabte Musikerin, in der Mitte ihres Lebens, vom Sterben reden muss.“
Sie beugte sich über den Tisch zu mir herüber und flüsterte geheimnisvoll: „Wegen miusick, verstehst du? Nein, du verstehst gar nichts! Nichts verstehst du, weil du nicht da warst, in der Karibik. Schumän habe ich noch ganz witzig gefunden, aber miusick statt Musik, das geht doch nicht, sagte ich zu meinem Kabinensteward Matthew. Mein letzter Obstler in diesem Leben, Prost Mathias! Matthew war gebildet, er liebte Schumän und konnte ziehmlich gut Deutsch, viel besser als ich Englisch kann. Aber er konnte nicht Musik sagen sondern nur miusick (hicks, Schluckauf). Die Todesstrafe ist angebracht für einen Menschen, dem die Ausprache miusick für das harmonisch klingende Wort Musik zu unmusikalisch ist. Verstehst du?
Nein, ich verstehe gar nicht. Wenn du schon mit dem Begriff Todesstrafe operieren willst, dann bitte für jemanden der sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht hat. Da käme, wenn überhaupt nur heimtückischer Mord in nur noch wenigen Ländern, zumeist in Diktaturen, in Frage.
Das m hat er einfach nicht gekonnt und ich habe ihm gesagt – jetzt kam gerade ein Herzlverkäufer vorbei und ich wählte eines für Irmhild aus, das ich ihr auch gleich um den Hals hängte, so dass es vor ihrem Mieder prangte mit der Aufschrift: Am Ende wird alles gut.
Ihr rollten plötzlich dicke Tränen über die Wangen und ich ermunterte sie weiter zu erzählen.
Es war für ihn so schwer sagte sie weinend, einfach nur „m“ zu sagen, statt „miu“, wenn er Musik sagen wollte und ich habe ihm gezeigt wie er es machen soll. Schau her Matthew, habe ich gesagt. Du brauchst nur die Lippen ganz leicht schließen und etwas nach vorne stülpen. So: m m m oder mmmm, wenn es länger klingen soll. Er kam ganz nahe und schaute mir genau zu. Dann spitzte er seine schönen Lippenkissen ganz leicht und kam ganz nahe vor mich und meine Lippen. Unsere Blicke trafen, ja vereinten sich sogar und er machte ganz lang mmmmmm – da bin ich einfach dahin geschmolzen. Vom Weinen durchgeschüttelt sagte sie: Aber nur eimal, ich bin nur einmal dahin gescholzen und er hat zu mir fair well my beautiful cotton blossom gesagt, bevor er in Charleston, wo sein Dienst endete, von Bord ging.
Mein Gott Irmhild, was ist denn so schlimm an einer kleinen Affaire, das passiert doch vielen alleine reisenden Frauen, wenn wir mal ehrlich sind, oder?
Wenn wir mal ehrlich sind, wiederholte sie entrüstet, wenn wir mal ehrlich sind, dann hätte ich das auch verkraftet. Aber, in der Nacht vor dem Heimflug aus Miami rief mich meine Schwägerin an und sagte: Irmhild, der Rolf ist gestorben. Eine unvorhersehbare Lungenembolie ist eingetreten und die Ärzte konnten nicht mehr helfen.
In ihrem noch stärker gewordenen Weinkrampf gefangen wiederholte sie nochmal, wenn wir mal ehrlich sind, dann darf doch so was nicht sein, dass ich mich in der Karibik vergnüge und mein Mann zuhause stirbt. Ich wollte in der Nacht aus dem Fenster vom 24. Stock springen, aber die Fenster konnte man nicht öffnen. Dann habe ich in zwei Stockwerken alle Crusheisspender leer gemacht und mich mit dem Eis in mein Bett gelegt, damit ich erfriere, aber ich bin nicht erfroren, weil das Eis geschmolzen ist. Einfach dahingeschmolzen ist das Eis, wie ich dahin geschmolzen bin, wie alles dahin schmilzt in der Karibik und in Florida. Alles schmilzt, der Verstand, der Charakter, die Liebe, der Mann, die Musik alles, alles weg geschmolzen in Florida. Seit meiner Rückkehr habe ich nicht mehr mumusiziert, ich habe meine Anstellung beim Orchester aufgegeben, weil mir miusick keine Freude macht.
Sie erhob sich trotzig und schwankend von der Sitzbank und sagte: Leb wohl Mmaas, weil sie so betrunken, wie sie jetzt war, meinen Namen nicht mehr aussprechen konnte. Ich gehe jetzt zur Todesstrafe und sie wollte mir wieder davonlaufen. Aber sie stolperte im Umdrehen geradewegs auf eine, mit einem Zwölfer-Maßkrugkranz bewehrte Bedienung. Bier schwappte über sie und Irmhild stürzte auch noch zu Boden.
Ich war sofort zur Stelle, hob sie auf und sagte: Das wars für heute. Ich schaffte sie, ich zerrte sie, des blöde, besoffene Weibsbild, des halt nix sauffa soi, wenns nix vertragt, wie die Bedienung uns nachschimpfte, nach draussen. Ich zog ihren einen Arm über meine Schulter, fasste sie um die Hüfte und schleifte sie in Richtung Taxistand. Irmhild rief immer wieder ich gehe zur Todesstrafe, ich muss zur Todesstrafe. Beim Taxi angekommen, meinte der Fahrer: Hinrichtungen finden da drüben beim Schichtl statt, da kannst a hinlaufen.
Nein, wir fahren nach Bogenhausen, sagte ich und verfrachtete Irmhild in den Fond des Wagens. Der Taxler, der inzwischen auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, drehte sich um und sagte, aber aussgespiebn hots scho, oder? Weil, wenns mir ins Auto nei speibt, dann kost dich des fünf Riesen, nur damit Klarheit herrscht, gell?
Irmhild, die sich nicht aufrecht halten konnte, drohte von der Rückbank zu rutschen. Ich fasste sie um die Hüften und hob sie nach oben. Ihr Mieder und die schöne, weisse Dekolletébluse war nass von dem Bier, das von den Maßkrügen über sie geschwappt war und schmutzig vom Boden auf den sie gefallen war. Das Lebkuchenherzl war zerbrochen.
Wie jener, in der Literatur beschriebene Kavalier aus dem 19. Jahrhundert, der seine Angebetete artig fragte, ob er die aus ihrem Dekolleté verrutschten Catteleya Orchideen wieder in Ordnung bringen dürfe, fragte ich Irmhild, ob ich ihr Dekolleté in Ordnung bringen darf. Sie antwortete ganz schwach, wie aus einem seligen Traum heraus, aber in perfektem Englisch: Yes, please.