Weder eine Ameise noch ein Löwe war der Ameisenlöwe und so kam ihm eines schönen Tages die ihn von da an nicht mehr loslassende Frage: „Ja, wer bin ich eigentlich? Wenn ich weder eine Ameise noch ein Löwe bin, wer oder was bin ich dann?“
Wie es seiner Art entsprach, zu seinem Fressen zu gelangen, grub sich der Ameisenlöwe ein Loch in der Form eines Trichters in den Sand. Dort verweilte er, bis eine Ameise auf der schrägen Wand vorbeikrabbelte und diese zum Einsturz brachte. Hilflos rutschte die Ameise immer näher an den Ameisenlöwen heran.
„Hilfe! Hilfe!“, schrie sie verzweifelt, sah ihr sicheres Ende nahen, aber der Ameisenlöwe hatte nicht vor, sie zu verspeisen. Nein, dieses Mal wollte er seine Beute verschonen – zumindest fürs Erste.
„Wer bin ich?“, fragte er mit fordernder Stimme.
„Was?“, erwiderte die Ameise voller Entsetzen und zitterte vor Angst.
„Wer oder was um Himmels willen bin ich?“
Die Ameise wagte nicht zu antworten, hielt sie seine Frage doch für eine Fangfrage, eine hinterlistige Falle.
„Antworte mir!“, fuhr der Ameisenlöwe sie schroff an und alles, was der Ameise in den Sinn kam, war: „Du bist du.“
Der Ameisenlöwe begann vor Zorn, am ganzen Körper zu beben.
„Das ist alles? Mehr fällt dir Rindvieh nicht ein?“
„Ameise.“
„Was?“
„Ich bin eine Ameise, kein Rindvieh.“
Das war zu viel für den Ameisenlöwen. Ehe die Ameise wusste, wie ihr geschah, hatte er sie auch schon mit einem Mal verschlungen. Nun hatte er seine Mahlzeit zwar gehabt, gierte aber nach wie vor und zwar nach einer Antwort auf seine Frage.
Auf seiner Weiterreise quer durchs Land begegnete der Ameisenlöwe eines Abends einem Löwen und wie auch der Ameise stellte er diesem die Frage: „Wer bin ich?“
Der Löwe lachte nur und meinte: „Ein hässlicher Nichtsnutz bist du!“
Diese Worte verletzten den Ameisenlöwen zutiefst. War er denn wirklich nur ein hässlicher Nichtsnutz? Wenn ja, warum war er dann überhaupt auf der Welt? Hatte sein Leben denn überhaupt einen Sinn? So sehr hatte er eine Antwort auf seine Frage ersehnt und nun, wo er sie hatte, war er unglücklicher denn je.
Nicht den kleinsten Happen nahm der Ameisenlöwe mehr zu sich. Saß nur noch da und wartete darauf, endlich zu sterben. Viele seiner kleinen Leckerbissen hielten ihn bereits für tot und krabbelten immer wieder frech auf ihm herum. Nur zu gerne hätten sie ihn als Trophäe mit nach Hause genommen und ihren Artgenossen weisgemacht, sie hätten ihn besiegt, doch sobald der Ameisenlöwe das leiseste Lebenszeichen von sich gab, suchten sie allesamt das Weite.
Völlig ausgehungert und ausgetrocknet war der Ameisenlöwe bereits, als er eines Tages eine Stimme fragen hörte: „Wer bist du?“
Der Ameisenlöwe horchte auf.
„Wer ich bin?“, erwiderte er nach einer Weile. „Das kann ist dir sagen! Ich bin ein hässlicher Nichtsnutz.“
Die Stimme, die weiblich klang, lachte.
„Wer behauptet denn so etwas?“
„Ein Löwe.“
„Und du glaubst ihm?“
Der Ameisenlöwe hob seinen Kopf und drehte ihn in die Richtung, aus der die Stimme zu ihm getönt war. Eine Ameisenlöwin hatte sich zu ihm gesellt, eine der außergewöhnlich schönen Art, und sogleich verliebte sich der Ameisenlöwe in sie.
„Also ich finde nicht, dass du ein hässlicher Nichtsnutz“, bist fuhr sie fort.
„Aber wer bin ich dann?“
„Das hübscheste Männchen, das mir jemals in meinem Leben begegnet ist.“
Die Ameisenlöwin schmiegte sich an den Ameisenlöwen an und dieser legte zaghaft seinen Kopf auf ihren.
„Komm, vergiss, was der Löwe gesagt hat. Er war ja nur neidisch. Lass uns stattdessen zusammen auf Jagd gehen. Ich bin am Verhungern!“
Der Ameisenlöwe willigte ein. Wie hätte er zu solch einer Schönheit auch Nein sagen können?
Weder Ameise noch Löwe – wer er also wirklich war, blieb dem Ameisenlöwen sein ganzes Leben lang verborgen. Aber nun mit der schönen Ameisenlöwin an seiner Seite, beschäftigte ihn diese Frage auch gar nicht mehr so sehr. Er war, wer er war – die Ameise von damals hatte schon recht gehabt. Er war ein Lebewesen so wie jedes andere und nicht mehr oder minder wertvoll und nützlich.