Der kleine Gedichteweg in Mourèze

Bild von Dieter J Baumgart
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„Oh, das ist aber schön…“ sprach uns eine Nachbarin in Mourèze eines Tages an, „kommt da noch mehr?“
Das ist nun schon über zehn Jahre her, und diese Bemerkung war für mich der Startschuß zur schönsten literarischen Freizeitbeschäftigung in meinem Leben als Geschichtenerzähler.
Na, werden Sie fragen, und worum ging es da?
Es ging um zwei in Kunststoffolien eingeschweißte A4-Textseiten, in Holzrahmen an Pfählen befestigt, am Rande eines kleinen Weges durchs Gebüsch, gelegen im Naturschutzgebiet Cirque de Mourèze.

Naturschutzgebiete sind, der Name sagt es schon, besonders gegen Veränderungen geschützte Gebiete. Und wer da etwas verändern möchte, sollte vorher die zuständige Stelle befragen.
Im Falle von Vorhaben, die auf den ersten Blick ein wenig bizarr erscheinen, offeriert der Ratgeber für Antragsteller eine wohlfeile Erfahrung, die zu beherzigen von Vorteil ist: „Wer viel fragt, bekommt viele Antworten“, und mit jeder Antwort rückt ein positiver Bescheid in weitere Fernen…
Jedenfalls in Deutschland ist das so.

Wer nun wegen der Genehmigung eines Vorhabens vorstellig wird, welches er leider – und vielleicht auch, weil die Vorstellungskraft des Befragten Grenzen aufzeigt – nicht so genau beschreiben kann, hat per se schlechte Karten. Und das ist nicht nur in Deutschland so.
Für solche Fälle bietet sich dann der so genannte Versuchsballon an. Angesichts gekrauster Stirnen kann er jederzeit und ohne Gesichtsverlust wieder eingeholt werden. Was mich betrifft, so setzte ich gleich zwei ein, zwei eingerahmte Texte an Holzpfählen. Für den Fall, daß einer allein übersehen wird und somit zu falschen Schlußfolgerungen führt. Natürlich war ich mir bewußt, daß das Risiko nicht in der Installation der hölzernen Pfähle lag, es lag im Inhalt der Texte: Zwei Parabeln, Ameths Traum und Schmetterlinge – die Entstehung des Lächelns, in gutem Französisch nachzulesen in diesem Literaturportal.

Hier ist einzufügen, daß meine Französischkenntnisse den Anforderungen einer literarischen Übersetzung keinesfalls gewachsen sind. Doch habe ich das Glück, mit einer Frau verheiratet zu sein, die in der Lage ist, eine solide Grundlage in Französisch zu erstellen, die dann von einem mit uns befreundeten Franzosen und Liebhaber der deutschen Sprache verfeinert wird. Ohne diese beiden Menschen gäbe es den petit de chemin de la poésie nicht, das ist klar.

Nun, der erste Test verlief positiv, denn in einem Dorf mit damals etwa hundert Einwohnern spricht sich so etwas schnell herum, der Anfang war also gemacht. Einige Monate vergingen, und ich verwendete statt der aufwendigen Holzrahmen dekorative Kalksteinplatten in unterschiedlichen Formen, auf denen besonders die kürzeren Texte grafisch gestaltet werden konnten.
Auch habe ich von Beginn an Wert darauf gelegt, daß meine Beiträge zum Nachdenken, zur Auseinandersetzung herausfordern. Meine Stilmittel sind Anmerkungen, Infragestellungen, gern auch in der Form von Parabeln. Und zu meiner großen Freude kann ich feststellen, daß meine „Lesezeichen“ verstanden werden.

Zurzeit sind es 17 Titel, die auch alle bei LiteratPro gelistet sind: Savoir est puissance (Wissen ist Macht), Le rêve d’Ameth (Ameths Traum), Tu) (Du), Papillons (Schmetterlinge), Les mots (Worte), Hier (Gestern), Au début il y avait une parole (Am Anfang war ein Wort), Conseil N° 1984 (Ratschlag Nr. 1984), Saisons (Jahreszeiten), Mascarade (Maskerade) Le vent (Der Wind), Ce jour (Dieser Tag), Rien sinon des drapeaux noirs (Nichts als schwarze Fahnen), Pas de Paix sur la terre (Kein Frieden auf Erden), Une histoire de Noёl (Eine Weihnachtsgeschichte), Mourèze (Mourèze), L'histoire triste du Baobab (Die traurige Geschichte vom Baobab).

Doch nun zum Wichtigsten: Meine Leserinnen und Leser. Bevor ich mit Zahlen aufwarte, ein Blick auf die Gegebenheiten. Mourèze mit seinem Talkessel ist ein touristischer Edelstein, der außer Natur nichts zu bieten hat, davon aber vom Feinsten. Der kleine Gedichteweg bietet neben dem Haupteingang einen direkten Zugang vom Dorf in den Talkessel. Die aktuelle Besucherzahl pro Jahr liegt bei 112 000 Naturliebhabern. Wir können davon ausgehen, daß die Zahl meiner Leser bei 2-3000 pro Jahr liegt. Häufig geschieht es, daß ich von begeisterten Leserinnen und Lesern angesprochen werde. Wenn ich meine Text gewordenen Gedanken mit Gehirnwürmern vergleiche, die sich in den Köpfen der Leser einnisten und neue Zusammenhänge entstehen lassen, finde ich große Zustimmung. Viele, besonders ältere Besucher bedanken sich herzlich, Kinder lesen kurze Texte stolz ihren Eltern vor. Kurz gesagt, ich habe das Gefühl, etwas bewegen zu können.

Doch will ich mein Leben lang,
Sandkörner abbauen
in der Hoffnung, daß eines Tages auch
der Fels in Bewegung gerät.

Auszug aus Wissen ist Macht

So gesehen ist dieser kleine Weg mein ganz persönlicher Steinbruch, in dem ich aus Überzeugung und mit Begeisterung tätig bin.
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind häufig faszinierend und überhaupt nicht vorhersehbar. Das gilt vor allem dann, wenn ich erfahre, daß ich etwas in Gang setze, was andere Menschen, die der Zufall in diesen Weg geführt hat, weiter gestalten und in ihre berufliche Tätigkeit integrieren.

So sprach uns im Sommer vergangenen Jahres ein junger Besucher an. Er sei Vertretungslehrer in einer Grundschule in Toulouse und seit drei Wochen in einer Förderklasse für Schüler mit großen Lernschwierigkeiten. Gern würde er den einen oder anderen Text mit seinen Schülern durcharbeiten. Er nahm eine Zusammenstellung aller Texte mit und bedankte sich sehr.
Einige Monate später erhielten wir einen Brief mit zahlreichen Beilagen.

„Jeden Tag“, so schrieb er, „haben wir vier Zeilen Ihrer Parabel Jahreszeiten bearbeitet. Zwei von insgesamt zwölf Schülerinnen und Schülern können schon mehr als die Hälfte des Textes auswendig vortragen. Und die Anderen hatten – mit etwas Unterstützung – keine großen Schwierigkeiten.
Sie haben Ihre Texte sehr geliebt und wollen Ihnen das sagen!

Emmanuel Fonies“

Beigefügt waren zahlreiche A4-Blätter mit Zeichnungen und Texten zum Thema Jahreszeiten.
Ja, dieser kleine Weg, der bei starken Regenfällen zum Wildbach mutiert, ist mein privater Literaturmarkt, steuerlich nicht relevant. Ich verkaufe nichts, ich verschenke meine Gedanken. Einmal gelesene Texte verbleiben in den Hirnen der jeweiligen Leser. Rückgabe auch bei Albtraumgefahr nicht möglich, da hilft dann nur Vergessen.

Spaß beiseite, ich fühle mich durchaus verantwortlich für das, was da gelesen werden kann. Und wenn dann Rückmeldungen kommen, wie die von den Kindern einer Grundschule in Toulouse, dann freue ich mich schon sehr.

Kleiner Nachtrag

Gestern Nachmittag: Im kleinen Gedichteweg wird laut gelesen. Zehn Minuten später strömen an die zwanzig Kinder zwischen 5 und 6 Jahren, begleitet von vier Erwachsenen, heraus und eine Betreuerin wendet sich an mich: „Lebt er noch, der Dichter?“
„Ja“, sage ich, „das bin ich!“.
„Oh, das ist schön!“ ruft sie und wendet sich an die Kinder: „Er ist es selbst, der Dichter!“
Darauf jubelt die ganze Schar: „Merci, monsieur le poète!“

Dieter J Baumgart

Hinweis: Alle deutschen Texte (Lyrik u. Prosa), die in französischer Übersetzung im "kleinen Gedichteweg" gelesen werden können, sind mit folgendem Hinweis gekennzeichnet:
"Zu lesen in Französisch im kleinen Gedichteweg in Mourèze".