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kompletten Umrüstung zu befürchtenden Produktionsausfälle eine Rolle gespielt haben. Ein zweites Kesselhaus findet seinen Platz gegenüber dem Herrenhaus auf dem Fundament einer nicht fertiggestellten Werkhalle an der Grand'rue. Und ab 1860 wird der letzte große Gebäudekomplex, ein freistehendes Kesselhaus mit hohem Schornstein an der Längsseite des Wasserbeckens errichtet.
Keine dreißig Jahre nach Inbetriebnahme dieses dritten, außerhalb des eigentlichen Werkgeländes stehenden Kesselhauses, bricht sich die zweite industrielle Revolution Bahn: Die Elektrizität.
Damit allerdings ist die gewachsene Produktionstechnik endgültig überfordert. Die Energie fressenden Transmissionen müßten den elektrischen Installationen weichen. Eher halbherzig werden zwei Hallen in Metall- und Glasbauweise errichtet, in denen elektrisch betriebene Webstühle zum Einsatz kommen.
Doch es fehlen sowohl finanzielle Mittel als auch die sonstigen Voraussetzungen, um die notwendigen technischen Umstellungen konsequent durchzuführen. Das weiß natürlich auch die Konkurrenz, die nur darauf wartet, einen lästigen Mitbewerber loszuwerden.
Die Manufaktur verfügt derzeit über 120 Webstühle; aber trotz besserer Auftragslage während des Ersten Weltkriegs ist der Niedergang nicht aufzuhalten. Andere Unternehmen sind technisch besser ausgestattet, arbeiten preiswerter, erhalten deshalb auch mehr Aufträge, verdienen mehr und haben besseren Zugang zum Kapitalmarkt, der letztendlich über Sein oder Nichtsein entscheidet.
Qualität, einst ein Gütesiegel der Textilmanufaktur von Villeneuvette, ist nur noch Worthülse, und soziale Verantwortung wird zur Belastung. Es ist die Tragik in der Historie des Unternehmens, daß es eben diese sozialen Errungenschaften sind, der Respekt vor der Handarbeit, die Verantwortung des Chefs gegenüber seinen Mitarbeitern und ihren Familien, die 1954, nach fast 350 Jahren, das Aus für die Arbeitsstätte bringen. In kurzen Worten: Sie paßt nicht mehr in die Zeit.
Jetzt, im Jahr 2014, ganze sechzig Jahre später, werden in Asien Frauen und Kinder, die zu einem Hungerlohn in baufälligen Etablissements Kleidung zusammen nähen, von den Trümmern ihrer Arbeitsstätte erschlagen.
Ja, auch darum habe ich diesen Bericht verfaßt.
Dieter J Baumgart
NACHDENKEN
Aristote, der Weber, träumte – mit oder ohne Entsetzen, die Geschichte sagt darüber nichts aus, daß eines Tages die Webstühle ganz allein weben, daß die Schiffchen ganz von selbst vor und zurück flitzen.
Nun, wir sind soweit.
Und der Weber, statt seinen Webstuhl allein arbeiten zu lassen und zum Beispiel vor die Tür zu gehen und zu sehen, daß es Frühling geworden ist, findet sich im Winter derer wieder, die nicht mehr wissen, was sie auf dieser Erde tun sollen. In der Tat, statt weiterhin Tuche beim Weber zu bestellen, als guter Händler, der sich sagt, daß der Weber ein guter Weber ist, der es versteht, die erste Schwalbe in seinen Webmustern darzustellen, die Tuche mit dem Duft des Sommers, mit den Farben des Herbstes auszustatten, wärmend im Winter und sanft im Frühling, statt sich diese schönen Dinge zu vergegenwärtigen, macht der Tuchhändler seine Kalkulation und beschäftigt einen Webstuhl ohne Weber.
Selbstverständlich, wenn der Händler es sich antut, weniger schöne Tuche anzubieten, dann deshalb, weil sie nun billiger sind und sich besser verkaufen lassen. In der Tat, die Tuche, hergestellt im Sommer, verkauft im Winter, dufteten nach Frühlingsblumen und eine unbekannte Sanftheit war ihnen eigen bis zu dem Tag, an dem der Weber von der Herstellung der Tuche ausgeschlossen wurde. Ohne den Weber, ohne seine Hände, die das Schiffchen führten, haben die Tuche ihr Geheimnis, ihre Seele verloren, nichts als Stoffe eben.
Aber für den Moment ist der Händler zufrieden, Hauptsache, er hat etwas im Angebot. Um Händler zu sein, braucht es niemanden sonst, nur etwas Ware, um sie zu verkaufen. Und um die herzustellen, ist nichts geeigneter als seine Maschine, die läuft ganz allein. Was den Weber betrifft, Pech für ihn, wäre er doch Tuchhändler geworden. Heutzutage brauchen die Tuche Händler, keine Weber. Sicher, das ist ein bißchen verrückt, sagt sich bisweilen selbst der Händler. Geld einnehmen ohne jemanden zu beschäftigen, natürlich – bis auf die Kunden. Das macht nachdenklich, selbst einen Händler.
Doch diese Gedanken, das hat sicher auch mit seiner Verdauung zu tun, die bedrücken ihn schon mal und unterbrechen seinen Nachmittagsschlaf. Mehr allerdings nicht. Es ist der Bewegungsmangel. Man braucht niemand mehr, muß niemanden aufsuchen, vor allem nicht den Weber, um sich mit ihm zu unterhalten. Der Weber ist verschwunden, er ist weit weg. Er kann seinen Beruf nicht mehr ausüben, man hat nichts mehr mit ihm zu tun.
Nun, wie auch immer, von Zeit zu Zeit fragt sich der Händler, ob da nicht etwas falsch läuft. Irgendwas stimmt nicht in dieser Rechnung. Geld verdienen und kein Mensch arbeitet dafür, das ist seltsam. Und – was ihn selbst angeht – er bedauert beinahe, wenn keiner mehr mit ihm redet, ihn auf andere Gedanken bringt. Der Weber - überhaupt die Handwerker, die Künstler, ziemlich komplizierte Leute, aber irgendwie auch komische Käuze.
Ach was! Zum Teufel mit der Schwarzseherei. Die Welt ändert sich und wer zu etwas kommen will, wird sich mit ihr ändern. Und überhaupt: Er ist Händler, Händler, kein Künstler, kein Philosoph, kein Politiker! Er verkauft Tuche, wie auch immer, und alles andere betrifft ihn nicht. Und wenn morgen der Kameltreiber seine Arbeit verliert, weil man keine Karawanen, keine Kamele mehr braucht – würde ihn das betreffen, den Tuchhändler? Und wenn morgen alle Menschen, die von ihrer Arbeit leben, keine Arbeit mehr haben, dann ist das nicht sein Problem. Solange er Kunden haben wird, die seine billigen Tuche kaufen… Aber, was ist das! Es ist nicht die Verdauung, die ihn quält, ihm bricht der kalte Schweiß aus: Wer ist denn sein bester Kunde, wenn nicht der Karawanenführer. Die Tuche – er braucht sie, eines pro Kamel, und das fast für jede Reise. Eine Goldmine, dieser Karawanenführer! Und wenn es morgen Kamele gibt, die keinen Führer mehr brauchen, oder Waren, die ohne Karawanen transportiert werden, er würde seine besten Kunden verlieren.
Er steht am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Er muß einen täglichen Spaziergang einplanen, um von diesem verdammten Weber weg zu kommen. Es wird nicht morgen sein, daß man die menschliche Arbeitskraft nicht mehr benötigt. Das, was für die Tuche zutrifft, das gilt auch für die Kameltreiber, für die Töpfer und, und, und… für alle Berufe, sie alle sind gute Kunden, alle diese Berufe, die fundierte Kenntnisse verlangen.
Es wird nicht morgen sein, daß den Menschen die Arbeit untersagt wird. Die Arbeit ist ein Menschenrecht, es geht um die Würde. Lächerlich, dieser Albtraum!
Aber es ist wahr, der Weggang des Webers hat in ihm eine Leere hinterlassen. Er wird lernen müssen, nicht so empfindlich zu sein. Ein Tuchhändler hat weder starke Nerven noch Gefühle nötig… Den Menschen die Arbeit zu verbieten? Aber das ist ja lächerlich, eine verrückte Idee. Wieder so eine Künstleridee!
Dieter J Baumgart (aus dem Französischen nach einem Text von Rodolphe Clauteaux)