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I . Drei Hütten am Bach
Wer im Süden Frankreichs die D 908 von Clermont-l’Hérault in Richtung Bédarieux befährt, kommt nach wenigen Kilometern an einer großzügigen Platanenallee vorbei, die sich rechts an der Hauptstraße öffnet. Für den Ferienreisenden bietet es sich an, hier eine der zahlreichen Weindomänen zu vermuten, gehörte doch das Languedoc schon in den Zeiten der alten Römer zu den größten geschlossenen Weinbaugebieten in Südeuropa. Es waren übrigens auch die Römer, die den Galliern beibrachten, die Amphoren zum Transport ihrer Produkte, Öl und Wein, an Ort und Stelle herzustellen und nicht, wie gewohnt, teuer aus Griechenland zu beziehen.
Wer nun, neugierig geworden, den Parkplatz am Rande der Platanenallee nutzt, um in der vermuteten Domäne Wein zu kaufen, steht bald verwundert vor einer mächtigen Toreinfahrt mit der Inschrift HONNEUR AU TRAVAIL. Der des Französischen nicht ganz so mächtige Besucher sollte allerdings mit einer Übersetzung ins Deutsche vorsichtig sein. Sinngemäß heißt es jedenfalls „Ehret die Arbeit“, und damit ist die Arbeit an sich gemeint. Aber wir wissen alle, daß dieser Sinnspruch längst dabei ist, unter die Räder des Maschinenzeitalters zu geraten.
Nun gut, die Mauern, die jetzt sichtbar werden, und die ich erzählen lassen möchte, sind inzwischen mehr als 340 Jahre alt. Und sie ergeben in ihrer Gesamtheit auch kein königliches Schloß sondern – eine Textilmanufaktur. Die Inschrift allerdings ist jüngeren Datums: 1789, im Zuge der Französischen Revolution wurden die letzten sechs Buchstaben der ursprünglichen Inschrift MANUFACTURE ROYALE mit dem Meißel eingeebnet und die sozialrevolutionäre Devise hinzugefügt.
Hinter dem Tor erstreckt sich geradeaus die ebenfalls von Platanen gesäumte Grande rue. Linkerhand findet sich eine große Kapelle, rechts die Place Louis XIV mit einem Springbrunnen in der Mitte. Der Platz wird links von einem dreistöckigen Verwaltungsbau begrenzt, hinten und rechts bilden zweistöckige Häuserzeilen einen rechten Winkel. Hier fanden sich ehemals u. a. eine Schule und eine Seidenraupenzucht.
Seide wurde hier allerdings nie produziert. Aber eine Seidenraupenzucht gehörte in jenen Zeiten nun mal zur Ausstattung einer jeden Textilmanufaktur, die etwas auf sich hielt. Und die Manufaktur von Villeneuvette hielt was auf sich, das hatte der Sonnenkönig angeordnet und sein Finanzminister Jean-Baptiste Colbert wachte darüber. Doch davon später.
Der Besucher wendet sich zunächst nach rechts und gelangt in der Verlängerung des Verwaltungsbaus in eine schmale Straße, die Rue Colbert, die nach etwa 80 Metern an einem Durchgang mit schmiedeeisernem Tor endet. Links und rechts von dieser Straße öffnen sich je zwei kurze Gäßchen, die Rues des tisserends, beiderseits von zweistöckigen „Reihenhäusern“ bestanden, davor blühende Bäume, Büsche und Blumenrabatten. Hier haben einst die bestbezahlten Fachkräfte, die Weber, mit ihren Familien gewohnt und gearbeitet. Na, denkt der Besucher, das ist ja hübsch, und wendet sich zurück zur Grand'rue, um zunächst den großen Gebäudekomplex an der Hauptstraße zu erkunden. Da hatte die Geschäftsleitung ihren Sitz, und die große Uhr in einem erhöhten Giebel verkündete weithin, was die Stunde geschlagen hat.
Schön restaurierte Fassaden wechseln ab mit Bauten, an denen der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen hat. Weiter hinten links lädt ein kleines Café zu einer Ruhepause ein; nein, das gab es damals noch nicht. Schließlich endet auch die Grand'rue an einem schmiedeeisernen Tor. Der Besucher tritt hindurch, wendet sich nach rechts eine Treppe hinauf und entdeckt bald auf der rechten Seite ein Wasserbecken ohne Wasser. Damals war es voll, denn Wasser war der Treibstoff, der den ganzen Laden am Laufen hielt. Am Ende des Beckens schräg gegenüber reckt sich ein hoher, freistehender Schornstein in den blauen Urlaubshimmel, daneben das Kesselhaus, Wahrzeichen der ersten industriellen Revolution. Und nicht weit entfernt eine Wasserkunst, ein hohes, muschelförmiges Bauwerk mit Wasserbecken und Neptunshaupt, wie man es auch in Kurorten findet. Ach, denkt unser Besucher und rätselt. Nun ja, dieses Bauwerk diente der verehrten Kundschaft ebenso zum plaisir, wie die schon erwähnten Seidenraupen…
Die Keimzelle hingegen, aus der sich alles entwickelte, findet sich ganz woanders und wird leicht übersehen. Wer sich gleich nach dem Eingangstor hinter der Kapelle nach links wendet und einem schmalen, abwärts führenden, mit Feldsteinen gepflasterten Weg, der Rue de la Calade, folgt, steht nach etwa zwanzig Metern zwischen winzigen Häuschen am Ufer eines Bächleins, der Dourbie.
Im Jahre 1673 beherbergten diese Häuschen eine Meierei, eine Getreidemühle und eine Walkmühle, als der durch seinen Handel reich gewordene Tuchhändler Pierre Baille aus Clermont l’Hérault sich entschließt, die Häuschen zu erwerben und auszubauen. In den ersten Jahren setzt er die Gebäude instand, erweitert sie und richtet eine Färberei sowie ein Atelier für sechs Handwerker ein. In diesem Sinne sind die kleinen verwinkelten Häuschen, das Quartier de la calade, die so gar nicht zu der übrigen Industrieanlage passen wollen, auch als Keimzelle der Textilmanufaktur von Villeneuvette anzusprechen.
Die für die Erweiterungen notwendige finanzielle Unterstützung findet Pierre Baille bei André Pouget und weiteren sieben Gesellschaftern, einflußreichen bürgerlichen Protestanten, reich geworden durch Verwaltungsabgaben der Provinz Languedoc. Doch schon drei Jahre später verdrängt André Pouget, der die im Aufbau befindliche Manufaktur durchaus im wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem zu gleicher Zeit entstehenden Canal du Midi sieht, den eher in kleineren Dimensionen denkenden Gründer aus der Gesellschaft.
Pougets Plan sieht konsequent den Bau einer Manufaktur auf quadratischem Grundriß vor, eingefaßt von Mauern mit drei schönen Toren – ein großes für die Kunden, ein weiteres, etwas kleineres, führt in den Garten zwecks Führung und Nachbearbeitung von Verkaufsgesprächen, und ein drittes, schlichteres, für die Werktätigen. Das Ganze aufgelockert durch Straßen und Plätze. In diesem Sinne wird großräumig geplant, wobei das Hauptaugenmerk auf der Wasserkraft als Energielieferant liegt, denn die einfachen Wasserräder der beiden Mühlen an der Dourbie sind den Anforderungen einer großen Produktionsanlage nicht gewachsen. So entsteht als erstes ein 99 x 16 Meter großes Wasserspeicherbecken mit 5,5 Meter hohem Staudamm, das von Regenwasserkanälen und einer Staustufe an der oberen Dourbie gespeist wird. Das im Bassin gesammelte Wasser garantiert mittels einfacher Turbinen in Fallschächten eine geregelte