Unser Dorf ist immer gut für einen Besuch. Und so trug es sich zu, daß unsere Freundin Brigitte auf die Idee kam, ihr Verwandtentreffen mit einem Ausflug nach Mourèze zu bereichern.
„Dieter“, meinte sie eines schönen Tages, „ich habe mich entschlossen, weil ich nun auch mal dran bin, das alle drei Jahre stattfindende Verwandtentreffen auszurichten, Mourèze in das Besuchsprogramm aufzunehmen. Hättest du Lust, meinen Leuten aus Deutschland, es sind so um die dreißig, euer Dorf und den Cirque zu zeigen? Du kannst das doch so gut...“
Die Tage vergehen und dann ist es auch soweit. Statt der angekündigten Sonne beglückt ein lockerer Landregen die Natur. Entsprechend erscheinen meine Gäste mit Wanderschuhen, Regenschirmen und – trotz schlechten Wetters – in bester Laune, was ich gern zur Kenntnis nehme.
Ah ja, so sieht der also aus, steht es in den Gesichtern geschrieben. Nun, ich bin kein professioneller Touristenführer und habe natürlich kein festes Programm. Ich informiere auch nicht, ich erzähle.
Fast ist es wie bei einer Lesung. Ich schaue mir mein Publikum an und beginne zu senden. Und an den Gesichtern erkenne ich dann recht schnell, ob da was ankommt. Es ist tatsächlich mein Publikum, Menschen, die an dem, was ich vermitteln möchte, interessiert sind, die den Zusammenhängen, die ich anspreche, gern folgen. Sie spüren, daß ich mit dem Herzen dabei bin, weil auch ich immer wieder aufs Neue fasziniert bin von der Urgewalt einerseits und den sanften Veränderungen andererseits, die das Bild dieser Naturlandschaft prägen. So dokumentiert das pittoreske Dolomitgestein des Cirque de Mourèze eine 120 Millionen Jahre währende Entwicklung, die letztlich auch die Voraussetzungen dafür schuf, daß auf den Spitzen der zwanzig und mehr Meter hohen, kahlen Felstürmen Gebüsche und Bäume wachsen können. Der Berg, der den Hintergrund für diese Naturbühne liefert, war einst ein Korallenriff im Jurameer, und hier, wo sich jetzt unser Dorf erhebt, lebten schon vor zwanzigtausend Jahren Menschen.
Ich erzähle das nicht, damit meine Zuhörer in Ehrfurcht erstarren, sondern damit sie verstehen, daß dies alles nicht Dekoration ist, geschaffen zum Plaisir der werten Menschheit. Wir sind die Gäste auf diesem Planeten.
Schließlich gelangen wir wieder in unser Dorf und erkunden die schmalen Gäßchen. In der romanischen Kirche, die im 11. Jahrhundert aus einem Wehrturm entstand, verbreite ich Begeisterung mit einer gregorianischen Klangfolge aus eigener, ansonsten unmusikalischer Kehle, um einen Eindruck von der Akustik zu vermitteln. Als danach meine Gruppe wie von selbst einen Choral anstimmt, bin ich der begeisterte Zuhörer. Ein Blick in den Gemeindebackofen bietet sich an, um kurz über Jahrhunderte alte Backkunst zu referieren, wobei meine Gäste halb verschüttete Kenntnisse aus dem Physikunterricht wieder entdecken.
„Woher wissen Sie das alles?“ werde ich gefragt. „Es interessiert mich“, sage ich, „ich bin neugierig – und ich rede gerne.“
Den Abschluß bildet eine Besichtigung unseres direkt neben dem Backofen gelegenen Hauses – in Zweiergruppen, denn unser Haus ist mit Abstand das kleinste im Dorf – und das schönste, meinen wir jedenfalls.
„Dieter“, ruft meine Frau, „unsere Gäste möchten deine Postkarten und Texte kaufen...“
„Geht nicht“, sage ich, „die sind nicht zu verkaufen. Aber wir nehmen gern Spenden für PPUN an.“ Und ich erkläre, was es mit der privaten französischen Hilfsorganisation Passeport pour une Naissance (Reisepaß für eine Geburt) auf sich hat.
Die Spendenidee kam tatsächlich ad hoc, ausgelöst durch die Ankündigung meiner Frau, und ich ahnte nicht, was ich damit losgetreten habe: In wenigen Minuten füllen einundneunzig Euro das kleine Kunststoffaquarium, in dem sich stets die Spenden anläßlich meiner Lesungen in Köln und die Tombola-Einnahmen im Rahmen unserer Kunstausstellungen hier in Frankreich ansammeln.
PPUN gründete und unterhält in Thiawalène (Rufisque, Senegal) die Garderie „Keur Catherine“, einen Vorschulkindergarten für Kinder von 3 – 6 Jahren aus ärmsten Verhältnissen, der zur Zeit von rund 60 Kindern besucht wird.
„Ihre finanzielle Hilfe kommt auf den Punkt genau“, schrieb Catherine Kirsch, die Gründerin von PPUN, kürzlich aus Paris. „Wir unterstützen zur Zeit in einer Schule weitab im Busch die Einrichtung einer Abteilung für spielerisches Lernen. 140 Kinder werden dort von uns betreut. (...) Mit Ihrer Hilfe konnten wir den Materialtransport finanzieren und werden in Kürze mit der Arbeit beginnen. Vielen Dank dafür.“
Wie wichtig die Arbeit von PPUN tatsächlich ist, erfuhren wir vor einigen Wochen anläßlich einer Autorenlesung hier in Frankreich, an der ich teilnahm. Ein Autor aus dem Senegal bestätigte, wie schwer es für ihn war, ohne Französischkenntnisse den Anschluß in der Grundschule zu erreichen (im Senegal ist die Amtssprache Französisch). In Thiawalène zählen die Kinder von PPUN zu den Klassenbesten.
Auf der Empfangsseite der Internet-Präsentation (www.ppun.fr) findet sich der zweite Teil eines Gedichts von mir:
"Doch will ich mein Leben lang Sandkörner abbauen in der Hoffnung, daß eines Tages auch der Fels in Bewegung gerät."
Verständlich, daß diese Zeilen für mich eine Verpflichtung sind. Und wenn ich dabei von meinen Zuhörern in Deutschland und in Frankreich unterstützt werde, dann freue ich mich unbändig. Wie lautet doch eines der schönsten aller Sprichwörter?
Freude machen macht Freude!
Verwandtenbesuch
von Dieter J Baumgart
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