Zeit

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von Dieter J Baumgart

     „Warum“, so fragte vor Jahren einmal ein Rundfunkmoderator morgens gegen neun Uhr und sechsundvierzig Minuten seinen Kollegen am Mikrophon, „warum, meinst Du, rennt die Zeit so schnell?“ „Ich weiß es nicht“, entgegnete jener, vermutlich ein fragendes Antlitz offenbarend, was aber, da es sich um eine Rundfunksendung handelte, nicht überliefert ist.
     Überliefert hingegen ist die Antwort, die er erhielt, und die lautete ganz einfach:
     „Weil sie Angst hat, totgeschlagen zu werden!“
     Ein Wortspiel mit wahrhaft philosophischem Hintergrund.

Bevor es Flugzeuge gab,
hatte Gott schon die Vögel erfunden.
Allerdings sind sie kleiner,
langsamer
und fliegen nicht so hoch.

Eine schwache Leistung, diese Menschen.
Der Lehrling triumphiert
über den Meister.

     Am Anfang war die Zeit, und sie war Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem. Und die Zeit schuf die Bewegung als ihr lebendiges Spiegelbild. Und die Bewegung gebar das Licht, und das Licht zeugte Leben...
     Auch eine Art Schöpfungsgeschichte, oder?
     Aber eine gottlose! werde ich gescholten.
     Was ist Gott? frage ich zurück und vermeide bewußt die Personifizierung des Begriffs, denn es liegt nicht in meiner Absicht, eine religiöse Streitschrift zu verfassen. Und wenn in dieser, meiner kurzgefaßten Schöpfungsgeschichte der Mensch fehlt, dann wird im Folgenden noch viel von ihm die Rede sein. Zeichnet er doch verantwortlich für eine Reihe von Anmaßungen. Wobei ich die gelegentlich vertretene Ansicht, das Ebenbild Gottes zu sein, einmal außer acht lassen möchte. Beleuchten hingegen möchte ich unser menschliches, allzu menschliches Verhältnis zur Zeit. Oder, anders ausgedrückt, unseren Umgang mit dem, was wir umgangssprachlich mit Zeit bezeichnen, was im Grunde Bewegung ist, die wir mit Hilfe von Uhren in den Griff zu bekommen trachten. Und in diesem Sinne ist „meine“ Schöpfungsgeschichte durchaus der Rote Faden, von dem sich die folgenden Anmerkungen leiten lassen.
     Dieser, unser Umgang mit dem, was wir Zeit nennen, ist Ausdruck eines gnadenlosen Prinzips: Treten und getreten werden. Die einen treten, weil es Spaß macht, die anderen treten, weil sie getreten werden. Wobei der Spaß am Treten nicht selten nur ein Vorwand ist, der das Gefühl,  getreten zu werden, überdecken soll. Getreten wird in der Regel nach unten. Das führt unweigerlich dazu, daß denjenigen, die ganz unten sind, die Möglichkeit, ebenfalls zu treten, verschlossen bleibt. Ein unerfreulicher Zustand, zu dessen Bekämpfung im Fernsehen entsprechend geistlose Serien bereitgestellt werden. Die so vermittelte Scheinwelt läßt sich dank vielfältiger informationstechnischer Hilfsmittel konservieren variieren und vervielfachen, was den Blick von der Ausweglosigkeit der eigenen Lage ablenkt und das Denken als einen wirklich unnötigen und womöglich noch schmerzhaften Luxus erscheinen läßt. Aus dieser Tretmühle, wie der Volksmund sehr schön formuliert, auszubrechen, ist immer weniger Menschen möglich. Mit Geld allein ist es jedenfalls nicht getan, und so manchen wirklichen Aussteiger – ich meine nicht die Angeblichen, die sich finanziell gut ausgestattet ins Nichtstun verabschieden – zieht es wieder zurück ins fremdbestimmte Leben. Die Beweggründe sind mannigfaltig: Persönliche Bindungen spielen da eine Rolle, Anerkennung und – auch das soll nicht verschwiegen werden – der Kampf ums Dasein mit den gewohnten, weil auch vom Gegner verwendeten Mitteln. Genaugenommen sind es also die bekannten Spielregeln der Gesellschaft, in der man aufgewachsen ist. Die Gesellschaft, von der hier die Rede ist, zeichnet sich dadurch aus, daß sie Mitglieder, die sich nicht an die Regel Nr.1 Treten & getreten werden halten, ausstößt und zu Aussteigern wider Willen macht. Es sind jene, für die Zeit – oder sagen wir richtiger Bewegung – jeden Sinn verloren hat. Energien, die unter anderen Umständen in der Form von Arbeitskraft der Gesellschaft zugute gekommen und vielleicht sogar für die Ausgestaltung von Lebensperspektiven aufgewendet worden wären, entladen sich schließlich in Aggressionen als einzigem Lebenssinn.
     Die Zeit-ist-Geld-Gesellschaft: Ein menschenverachtender Verein, auch wenn es um die Ausbeutung von Ressourcen und die damit häufig verbundene Vernichtung anderer Gesellschaftsformen geht. Der Kolonialismus alter Prägung ist längst einer Technik gewichen, die in ihrer Perversion schon wieder menschenfreundlich ist, wenn sie die Gepeinigten aus einem Leben in Unterdrückung in den Tod entläßt.

     Und die Zeit schuf die Bewegung als ihr lebendiges Spiegelbild...

     Ebensowenig wie ein Spiegelbild ohne Original existieren kann, ist die Wahrnehmung von Bewegung ohne den Faktor Zeit möglich. Aber Zeit ist nicht gleich Bewegung! Hier wird der fundamentale Irrtum, der dem menschlichen Umgang mit der Zeit zugrunde liegt, deutlich. Der Ursprung unseres Zeitmißverständnisses geht zurück auf die Beobachtung der Bewegung der Gestirne, von denen die Sonne, zuständig für die Einteilung unseres Daseins in Tag und Nacht, das wichtigste ist. Die Behauptung wider besseres Wissen, die Sonne drehe sich um die Erde, ist ein Musterbeispiel für menschliche Machtgier und die Mittel, die zum Erhalt dieser Macht eingesetzt wurden. Die Erde als Mittelpunkt des Universums, das untermauerte die Behauptung, daß, wer auf der Erde das Sagen hat, auch Herr des Weltalls und damit der gesamten Schöpfung sei. In der auf möglichst profitable Maschinen- und Transportlaufzeiten bedachten Industriegesellschaft spielen Tag und Nacht nur noch eine untergeordnete Rolle, die zuweilen lediglich in lästigen Lärmschutzbestimmungen relevant ist. Vor diesem Hintergrund gewinnt der sehr deutsche Kampf um Ladenschlußzeiten einen Grad an Albernheit, den ich nicht vertiefen muß. In der Konsumgesellschaft gehört der jahreszeitliche Wechsel in der Versorgung mit Nahrungsmitteln der Vergangenheit an, was aber keinen Einfluß auf jene hat, die von dieser Konsumgesellschaft ausgebeutet werden, ohne ihr anzugehören und nur mittelbar in Form von Hungerkatastrophen von sich reden machen.
     Die Zeit, der einst in der Göttlichen Weltordnung mit Chronos sogar ein eigener Vorstandsbereich eingeräumt wurde, die Zeit, die als Traumzeit noch heute den Aborigines in Australien heilig ist, diese Zeit wurde in das Räderwerk menschlicher Machtbedürfnisse eingearbeitet. Eine dämonische Dreifaltigkeit – Geld, Uhr und Maschine –, installiert, gewartet und ständig auf den neuesten Stand gebracht von einer Zeit-ist-Geld-Gesellschaft ohne Haftung, sitzt seitdem einem Großteil der Menschheit im Nacken und bestimmt ihr Leben. Ein phänomenales Virus mit Namen Zeitgeist wütet in den Hirnen, und eine nach neuesten psychologischen Erkenntnissen ausgefeilte Produktwerbung besorgt den Rest. Auf der Strecke bleibt das, was schon seit langem nur noch als leere Floskel in der Verbrauchersprache fortlebt: Lebensqualität. Die Freizeit, einst hart erkämpft, wurde auf einen eben so hart umkämpften Freizeitmarkt reduziert.
     Alles wird schneller. Und weil Kommunikation recht aufwendig und – auf den ersten Blick jedenfalls – wenig produktiv sein kann, leisten wir uns auf Kosten der Kommunikation eine Pseudo-Informationsgesellschaft, die sich zumindest als Wirtschaftsmotor bewährt. Nicht Wissen ist gefragt, das machen die Fachleute schon unter sich aus. Information heißt das Zauberwort. Schnell – schneller – noch schneller – am schnellsten: Das Informationsgewäsch quält sich nicht mehr durch die Kupferstrippe, es rast durchs Glasfaserkabel. Und der upgedatete Konsument ist dank Händie in zig Variationen überall erreichbar. Begeistert gibt er auch den letzten Rest von Privatsphäre auf, denn nur wer mitmacht hat – scheinbar – Macht. Mobil – mobiler – am mobilsten. Die mobile Gesellschaft: Wer nicht unter die Räder kommt, fährt vor die Wand. Wer zu spät kommt, bleibt am Leben. Die freie Fahrt für freie Bürger im kollektiven Freizeitparadies wird mangels praktikabler Möglichkeiten auf den Straßen der mittlerweile fast zubetonierten Bundesrepublik auf die Datenautobahn verlagert. Die hier anstehenden Staus können ungefährdet mit einem Bierchen oder einem Computerspiel überbrückt werden und füllen zudem die Kassen der Telephongesellschaften und ihrer Aktionäre. Surfen ist in und Zeit ist Geld. Und mit dem Zeitgeist im Nacken erstehen die Cyber-Freaks flugs ein schnelleres Modem und bei der Gelegenheit auch gleich noch ein paar zusätzliche Gigabytes für die immer kleinere Festplatte. Zeit ist Geld – und wenn sich Geld sparen läßt, ist gleiches auch mit der Zeit möglich – so die für viele Zeitgenossen logische Schlußfolgerung. Doch bei näherem Hinsehen offenbart sich der voluminöse Haken an der Sache.
Geld hat man – oder man hat es nicht. Zeit hingegen ist – niemand hat sie, weder mehr noch weniger. Aber es kommt noch schlimmer: Die Zeit rennt nicht, oh nein, sie geht auch nicht. Ja, noch nicht einmal zum Vergehen läßt sie sich bewegen. Denn sie steht! Zeit ist eine Konstante. Was sich bewegt, sind wir selbst, als Teil eines sich bewegenden Universums. Bewegung ist Leben und schließt jede Form der Veränderung ein. Bezogen auf unsere mehr oder weniger lange individuelle Existenz, die nach vorherrschender Meinung mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet, ist diese Grundbewegung das, was wir unter dem Begriff Altern verstehen. Und vor dem Hintergrund dieses Vorgangs, auf den wir – dem Schöpfer allen Lebens sei es gedankt – nur unwesentlich Einfluß nehmen können, spielt sich nun das ab, was gemeinhin als Menschliches Dasein bezeichnet wird und offenbar nur mit Hilfe von Uhren in den Griff zu bekommen ist. Uhren sind – das will ich nicht bezweifeln – eine nützliche Erfindung, ein unentbehrliches Hilfsmittel im Umgang miteinander. Allerdings läßt sich nicht bestreiten, daß die Menschheit seit jeher keine glückliche Hand im Umgang mit ihren eigenen Erfindungen hat. Wir machen uns zum Untertan unserer Hilfsmittel mit dem Erfolg, daß wir selbst immer hilfsbedürftiger werden und versuchen, diesen Zustand mit dem Einsatz neuer Hilfsmittel erträglicher zu gestalten, was aber erfahrungsgemäß nur auf eine Verschlimmbesserung  hinausläuft.

     Und die Bewegung gebar das Licht, und das Licht zeugte Leben...

     Die Uhr ist ein Hilfsmittel zur Erfassung von Bewegungsabläufen aller Art. Mit der höchsten uns bekannten Geschwindigkeit eilt das Licht im Vakuum dahin. Nicht wenige Gestirne, die uns in klaren Nächten eine Ahnung von der Unendlichkeit vermitteln, existieren längst nicht mehr. Nur das Licht, das sie einst aussandten, ist noch auf dem Wege zu uns. Denn trotz seiner extremen Geschwindigkeit von 299 792 Kilometern in der Sekunde benötigt es Milliarden von Jahren für seine Reise durch den Raum. Keine guten Aussichten für Zeitreisende.
      Im modernen Sprachgebrauch wuchert die Vokabel Zeit in ungezählten Wortverbindungen, deren Logik nicht einmal mehr in Ansetzen erkennbar ist. Zeit heilt keine Wunden. Das muß die Wunde schon selbst tun. Und während sie im Sport einerseits zur Auszeit verkümmert, wird sie andererseits mit Millionenbeträgen pro Hundertstel Sekunde gehandelt. Nicht die Zeit ist relativ, sondern die Bewegungsabläufe sind es, deren Geschwindigkeiten wir dank des Hilfsmittels Uhr miteinander vergleichen können. Gäbe es nur eine Geschwindigkeit für jegliche Bewegung, könnten wir auf Uhren verzichten, denn es gäbe nichts zu messen, und eine ärgerliche Feststellung im modernen Arbeitsleben bliebe uns erspart: daß manche Leute schneller oder langsamer arbeiten als andere.
     Wie aber konnte es im Laufe der Zeit zu einem solchen fundamentalen Mißverständnis, ja, zu einer regelrechten Umkehrung der Fakten im Verhältnis der Menschen zur Zeit kommen?
     Ursache für dieses Fiasko ist ein alter Menschheitstraum: Das ewige Leben. Aber das Einzige, was in dieser Welt ewig ist, das ist die Zeit. Sie bleibt, und nur an ihr lassen sich alle Veränderungen messen. Die Zeit ist das Maß aller Dinge. Das aber kollidiert mit dem Anspruch einer Spezies auf Unsterblichkeit, die auch unter dem Begriff Krone der Schöpfung von sich reden macht. Also wurde flugs eine neue Weltordnung installiert: Nicht der Mensch vergeht, sondern die Zeit! Gesagt, getan. Machen wir uns die Zeit untertan, zerstückeln wir sie in Sekundenbruchteile. Die Zeit ist käuflich, sie läßt sich vermehren. Und da gegen das Sterben augenscheinlich kein Kraut gewachsen ist (Einfrieren erfordert bekanntlich noch immer eine ununterbrochene Stromversorgung), wird gegen entsprechende Vorleistungen ein Leben nach dem Tode und zu Füßen eines der zahlreichen Götter propagiert, in deren Namen man sich zu Lebzeiten die Köpfe eingeschlagen hat. Vorher aber durchrasen wir unser individuelles Dasein, machen die Geschwindigkeit zum Maßstab allen Erlebens, unterscheiden uns letztlich aber nur in der Wucht des Aufpralls gegen die Wand, die Tod heißt und eigentlich eine Tür ist. Hier geben wir, ungeachtet dessen, was wir – wie schnell auch immer – erworben oder verloren haben, unsere individuelle Existenz auf, was uns dann auch der kritischen Nachfrage enthebt, inwieweit sich diese Raserei eigentlich gelohnt hat. Unserer scheinbaren Selbständigkeit beraubt, zerfallen wir in jene Bausteine, aus denen wir entstanden. Wieder eingegliedert in die Bewegungsstrukturen des Universums sind wir das Material, aus dem unaufhörlich neues, individuelles Leben unterschiedlichster Form entsteht. Physisch an diesen Planeten gebunden, sind wir psychisch wieder eins mit einer Schöpfung, die sich ganz gewiß nicht von einer selbsternannten Krone den Takt vorgeben läßt.

     Wozu denn dann der ganze Aufwand? Wenn am Ende – nichts ist?
     Leben ist die Suche des Nichts nach dem Etwas. Ein anderer Umgang mit der Zeit und die Erkenntnis, daß der Weg das Ziel ist, könnte diese Suche auf vielen Gebieten verträglicher gestalten. Denn am Ende gibt es weder Gewinner noch Verlierer. Am Ende beginnen wir allemal wieder von vorn und finden das vor, was wir verlassen haben.

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