Trainieren wie Franz Kafka - müllern wie Jørgen Peter Müller
Wussten Sie, dass Franz Kafka in Sachen Sport genauso fleißig war, wie an seiner Schreibmaschine (übrigens eine vom Typ Oliver 5)? Hier erfahren Sie, welchem großen Vorbild er sportlich viele Jahre lang folgte und warum er dabei vielleicht sogar nackt am Fenster stand.
Work-out mit Kafka
Als der Body noch Leib hieß, wurde das heutige Work-out folgerichtig Leibesübungen genannt. Franz Kafka (1883 bis 1924) war einer, der seinen Leib fleißig übte. Er müllerte. Was etwas kafkaesk klingen mag, hat eine einfache Erklärung. Etwa im Jahr 1910 entdeckte Kafka den dänischen Gymnastiklehrer und Fitness-Guru Jørgen Peter Müller (1866 – 1938). Der hatte 1904 ein Werk zur systematischen Körperertüchtigung veröffentlicht, das in 24 Sprachen übersetzt wurde. Allein im deutschsprachigen Raum wurden zu Kafkas Lebzeiten nahezu 400.000 Exemplare verkauft. Der Name des Autors tauchte bald als Verb auf. Wer Müllers Anweisungen folgte, der müllerte.
Beweglichkeit statt Muskelkraft
Müllers Prinzip war es, statt auf Muskelkraft auf Beweglichkeit und Fitness zu setzen. Alle Organe einschließlich der Haut sollten gestärkt werden. Daher wurden die Übungen vorzugsweise in der Wohnung bei offenem Fenster durchgeführt. Technische Hilfsmittel waren nicht notwendig und einen Sport Outlet gab es zu jener Zeit auch noch nicht. Demnach ist es nicht ausgeschlossen, dass nächtliche Flaneure einen halbnackten oder komplett nackten Franz Kafka erspähten. Was sie sahen, war ein junger Mann, der sich streckte und drehte. Er war besessen vom Müllern, denn sein Körper war „dünn und empfindlich“. Kafka selbst beschrieb seine körperliche Verfassung einmal so: „Es ist nicht das geringste Fett, um eine gesegnete Wärme zu erzeugen, ein inneres Feuer zu bewahren, kein Fett, auf das sich der Geist gelegentlich über seinen täglichen Bedarf hinaus ernähren könnte, ohne das Ganze zu beschädigen.“
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Mit Vorläufer von Pilates zum griechischen Gott
Jørgen Peter Müller war damals in Europa eine berühmte Persönlichkeit. Er war dafür bekannt, nur mit einem Lendentuch bekleidet, Ski zu fahren. In seinem Buch „My System“ versprach er, den Körper eines Schwächlings mit nur 15 Minuten täglicher Übungen in einen griechischen Gott zu verwandeln. Für den Büromenschen Kafka, der von 1908 bis 1922 täglich bis zu 12 Stunden in der halbstaatlichen „Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag“ am Schreibtisch saß, war Müllers Buch eine Offenbarung. Obwohl er seinen Brotberuf in einem Brief Milena Jesenská als lächerlich und kläglich leicht“ beschrieb, ähnelte jenem Menschenschlag, die überwiegend in einem Stadtbüro tätig waren: „Oft ein trauriges Phänomen“, meinte Müller dazu. „Er (der Büromensch) ist vorzeitig gebeugt, Schultern und Hüften durch die Sitzposition auf dem Bürohocker verschoben, blass, mit pickligem Gesicht.“
Müller, dessen System als Vorläufer von Pilates gilt, empfahl Körpergewichtsübungen mit Zehenberührungen, Kniebeugen, Beinheben und Liegestützen. Eine besondere Ausrüstung war nicht erforderlich. Engagement und eine gewisse Strenge mit sich selbst genügten, um Müllers System umzusetzen.
Kafka war von „My System“ derart begeistert, dass er sogar seine Verlobte Felice Bauer in einem Brief bedrängte, es ebenfalls zu versuchen. Aber Felice fand es einfach nur langweilig, allein nach einem Plan zu turnen. Was ihm bei Felice nicht gelang, glückte Kafka offenbar bei seiner jüngsten Schwester Ottla. Verwandte und Freunde waren ebenfalls das Ziel seines missionarischen Eifers.
Vieles ist auch heute noch gültig
Müller mag ein Fanatiker gewesen sein, ein Scharlatan war er nicht. Viele seiner Erkenntnisse sind richtig. Zur Stärkung des Rückens bietet er solide Übungen an. Seine Gesundheitstipps mögen für die heutige Zeit banal klingen, waren aber vor über 100 Jahren nicht selbstverständlich. Alkohol nur in Maßen zu trinken und täglich ausreichend Wasser zu trinken, zählten ebenso zu den Empfehlungen Müllers, wie sich die Zähne zu putzen und jede Nacht acht Stunden zu schlafen. Etwa die Hälfte der Übungen, die Müller sich gegen Rückenschmerzen ausgedacht hat, gehören inzwischen zu den Standardempfehlungen für die Patienten. So gesehen lag Franz Kafka mit seinen täglichen Leibesübungen nackt bei offenem Fenster nicht falsch. Das tägliche Müllern gehörte jahrelang zu seinem Tagesablauf. Bekannt ist, dass er dabei eine große Disziplin an den Tag legte. Im September 1917 wurde bei Franz Kafka eine Lungentuberkulose diagnostiziert. Dennoch ist nachgewiesen, dass der Schriftsteller bis Ende des Jahres, aber wahrscheinlich noch länger Müllers Übungen fortführte.
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