Lass sie ziehen

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von Marie Mehrfeld

Sie ist unendlich, unfassbar, unaufhaltsam,
rast davon, und scheint doch manchmal
nicht vergehen zu wollen,

sie täuscht dich, du verwünschst
oder lobst ihre Flüchtigkeit,
das hält sie nicht an, das hilft dir nicht,

du irrst dich, wenn du meinst,
zu viel von ihr zu haben oder zu wenig,
denn du kannst sie nicht kontrollieren
und nur vorübergehend gestalten,

sie zerbröselt in deinen Händen,
in deinem Kopf, sie zerfließt,
nicht zu beschreiben,
nicht zu benennen ist sie,

sie ist gefühllos, ohne Mitleid,
heilt keine Wunden, auch deine nicht,

und sie kann doch so kostbar sein,
die besonderen Momente deines Lebens
mir ihr möchtest du nicht missen,

wir gehen durch sie hindurch
oder sie durch uns, nichts wäre ohne sie,
doch auch mit ihr kann nichts sein,

heute, gestern, übermorgen, neulich, bald,
niemals, armselige vergebliche
Versuche, sie in eine Wortform zu pressen,

nichts und niemand kann ihr entfliehen,
auch das Wasser des Flusses nicht,
an dem du wohnst, nicht dein Atem,
nicht dein Leben, deine Liebe,

sie kennt keinen Anfang und kein Ende,
kein Leben, kein Tod ohne sie,

du kannst sie weder beschreiben noch
festhalten, deshalb lass sie ziehen,
lächelnd, denn du kannst lesen:

Was ist Zeit? Wenn mich jemand fragt,
weiß ich es. Will ich es einem Fragenden
erklären, so weiß ich es nicht.
(Augustinus).

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