Ode an den Wald

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Himmlisch war es, unter den Bäumen zu liegen,
als die noch Wälder grün und die Winde sanft waren;
dort, wo zwischen den langen, sich herabneigenden Ästen
dunkle Schatten und der Glanz des Sonnenlichts
um meine Gunst buhlten.

Oder an jenen stillen Plätzen,
wo der üppige Wald kein Sonnenlicht mehr empfängt,
weil das dunkle Laub zu einem undurchdringlichen Blätterdach
verwoben ist, unter dessen sich neigender Traufe
kaum Schatten fällt.

Ich lag auf dem Waldboden
unter einem ehrwürdigen alten Baum.
Er hatte seine knorrigen Arme emporgehoben
und all seine Blätter über mir ausgebreitet,
die vor Freude in die Hände klatschten -
mit stets wiederkehrendem Klang:

Ein monotones Geräusch wie in einem Traum
ertönte zaghaft und sanft -
als rührte es von unzähligen Flügeln her,
als habe eine Glocke soeben aufgehört zu schlagen,
einem hohlen Gemurmel gleich,
das über einem Feld, einem See
oder einem Bächlein aufsteigt.

Träume - von der Art, die man nie vergisst -
schillernde Phantasien überfielen mich.
In Gedanken versponnen lag ich dort
und starrte in den blauen Sommerhimmel,
darüber die Wolken wie Schiffe vorbeisegelten.

Ach, waren das Träume! – unauslöschlich ...
solcherart, die junge Seelen heimsuchen,
ehe die Phantasie erlischt:
Legenden einer Mönchschronik,
Zeremonien der Heiligen und Weisen,
Märchen, die niemals aussterben,
Chroniken des Altertums.

Und selbst noch im Gedränge der Städte,
während mein Herz stets erfüllt war
von den wundersamen Mythen,
spürte ich die Frische der Ströme,
die mit Schatten und Sonnenlicht
meine Wege kreuzten, und mein grünes Traumland,
das heilige Land der Gesänge,
zu neuem Leben erweckten.

An Pfingsten, das, herausgeputzt wie eine Braut,
den Frühling brachte … wenn Vogelküken
ihre Flügel ausbreiten und Bischofshauben
goldene Ringe tragen, zog es mich hinaus in die Weite der Wälder. -
Tief in Gedanken versunken streifte ich dort umher.

Die grünen Bäume, meine Spielgefährten,
flüsterten ihr sanftes, heiteres Lied,
erinnerten mich an meine Kindheit ...
als sie mich in ihren langen wilden Armen
hielten und auf und ab wiegten – ,
schauten lächelnd nun auf mich herab,
als wäre ich noch immer
der kleine Junge von damals.

„Komm hinauf zu uns, sei noch einmal Kind!“,
raunten sie mir zu, wiegten ihre langen Arme auf und ab
und nickten feierlich: Ach, ich hatte keine andere Wahl,
als immer wieder in den andächtigen Wald zu gehn.

In die gute, würzig atmende Luft,
in den festlichen Wald. -
Wo auch immer man verweilte: Stille und Feierlichkeit!
Mit gefalteten Händen kniete die Natur zur Abendandacht.
Wie jemand im Gebet, so verharrte auch ich
unter den mächtigen Bäumen.

Vor mir erhob sich eine Allee aus düsteren
hohen Kiefern; neben ihren fächerartigen Zweigen,
dort, wo die Sonnenstrahlen hindurchdrangen,
verströmte sich in langen, schrägen Streifen
ein sanfter blauer Nebel und - wie ein
plötzlicher Regenguss auf meinen erschöpften Geist -
kehrten die Jugendträume in mein Herz zurück:
das zarte Lispeln eines Sommerregens,
der sich aus heiterem Himmel
auf die reife Natur und alle Blumen ergießt.

O Wunschträume der Kindheit!
So bleibt doch! - 'Bleibt!
Ihr wart so süß und wild!
Aber wie von weit her schien
eine Stimme zu flüstern: „Es darf nicht sein!
Lass sie vorüberziehn, die Träume!
Es gibt andere Dinge, die jetzt wichtiger sind.
Du darfst nicht länger Kind sein.

Das Land der Gesänge, darin du verweilst,
ist ein Geschenk des erwachenden Frühlings:
Die Lider der schlaflosen Augen der Phantasie,
die Pforten ins Paradies; fromme Gedanken haben
sich sternengleich aufgeschwungen. -
Ihre Wolken sind Engelsflügel.

Lerne - wie fortan dein Lied klingen soll:
Keine schneebedeckten Berge, weder
Wälder, die wie Bächlein klingen, noch Flüsse,
die unaufhörlich fließen … Dort, wo sich
der Tann krümmt, über den sich der Himmel wölbt,

wird ein anderer Wald sein, darin das Getöse von
eisernen Ästen umgeht. Ein gewaltiger Fluss
braust hindurch, und wer auch immer
hineinschaut, erblickt den Himmel:
schwarz von Sünde, sieht weder seine Tiefe
noch Grenzen.

Über den schaukelnden Ästen breitet die Sonne
ihre sanften Strahlen aus, dann aber kommt ein
garstiger Winterfrost. Deine Hoffnungen sinken
wie welke Blätter und bleiche Lippen flüstern:
'Es war einmal! - Es gibt kein Zurück!'

Dann schau in dein Herz und sag: Ja …
zum tiefen Strom des Lebens.
Alle Sorgen, alle Freuden, die feierlichen
Stimmen der Nacht, ob sie dich besänftigen
oder gar ängstigen, sollen von nun an dein
Leben bestimmen.“

(Präludium, frei nach H.W. Longfellow) Henry Wadsworth Longfellow (geboren am 27. Februar 1807 in Portland, Massachusetts, heute Maine; gestorben am 24. März 1882 in Cambridge, Massachusetts) war ein amerikanischer Schriftsteller, Lyriker, Übersetzer und Dramatiker.

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