Junge Liebe in Hamburg

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Ich gebe zu: Ich muss dich wiedersehen.
Ich vermisse dich so sehr!
Meine Leidensgrenze ist ganz erheblich überschritten.
Ich sehne mich nach deinen Lippen, deinem Haar ...
Ich werfe meine Augen in jeden Waschsalon:
Sie drehen sich wie verrückt mit den Trommeln und weinen - sie weinen ...
Sie sind völlig verzweifelt.
Sie schwimmen kopflos zwischen Jeans
und T-Shirts und lösen sich mit dem
Waschpulver auf; glibbriger Schleim,
der auf der Wäsche schliert ...

Obgleich mit Blindheit geschlagen,
beklage ich keine Sekunde lang den Verlust
meiner Augen und träume von dir, ich träume ...

Nachts finde ich mich wie angewachsen auf Schwellen von Spielhöllen wieder,
endlose Roulette-Tische nach dir absuchend, drehende Scheiben verfolgend,
das Springen kleiner, emsiger Kugeln, sirrende Munition ...
"Rien ne va plus?", fragt der Croupier. - Ach, ohne dich geht
überhaupt nichts mehr.

Ich durchquere knarrende Dielen in zwielichtigen Spelunken
wie schwach frequentierte Verkehrsplätze
und ignoriere die stillen Proteste wutschnaubender Wirte,
finstere Blicke, die mir Bier und Schnaps einflößen wollen,
Selbstgebrannten, Methylalkohol, irgendwelchen giftigen Fusel ...
Ich kann dich einfach nicht vergessen. - Ich liebe dich!!!!
Wo bist du ????????????????????????????????????

Ich erwäge, Harry Potter zu lesen. - Auf Plattdeutsch!
Zur Strafe, weil ich dich verschmähte. DICH verschmähte!
Ich erwäge, zwei Wochen lang zu hungern, bis du irgendwo
herausgekrochen kommst, weil jemand dir gesteckt hat,
ich sähe jetzt aus wie die junge Hepburn, wie Audrey Hepburn ...

Manchmal scheint es mir, als ob ich schliefe, während ich
suchend durch die Straßen eile. Und es kommt mir so vor,
als schliefen die anderen auch. Nur viel tiefer noch als ich,
obwohl sie pausenlos reden. -
Oder als träumten wir alle.

Die weißen Wolken über der Alster und den hohen alten Häusern
sehen heute wunderschön aus: Mystische Giganten, unbezwingbare Berge
aus Eis und Schnee, die die riesige Stadt beschützen, unsere schöne Stadt ...
Ich weiß nicht einmal deinen Namen ...
Ich glaubte, nie wieder ein Liebesgedicht schreiben zu können.

Mein Computer zeigt sich seit Wochen extrem eifersüchtig:
Er reagiert mit unverständlichen Fehlermeldungen.
Er droht mit gefährlichen Viren und kündigt an, alle Daten
vernichten zu wollen. Er rebelliert gegen mich und verweigert
mir den Zugriff auf wichtige Ordner. Er trifft Vorbereitungen für
den totalen Absturz und schreit verbittert nach professioneller Hilfe.
Ich versuche, nicht an dich zu denken und rufe einen Arzt, einen PC-Freak,
einen Netzwerk-Klempner.

Ich lese zum zehnten Mal 'Hyperion oder Der Eremit in Griechenland'
und verstehe kein einziges Wort: Meine Konzentrationsfähigkeit ist voll
den Bach runter. - Hölder erscheint mir im Traum, schäumend vor Wut.
Er wirft mir vor, dass du meinetwegen gelitten hast und immer noch leidest.
Ich flehe ihn an, mir zu sagen, wo ich dich finde; er aber hüllt sich in
geheimnisvolles Schweigen und beharrt auf einem Date - im nächsten
Jahrtausend auf dem Mars.

Ich 'betäube mich örtlich' mit Günter Grass und inhaliere nervös
'Szenen aus Smoke' von Paul Auster - vom schönen Paul ...
aber auf jeder Seite schummelt sich dein Gesicht zwischen die
Zeilen und lächelt mir zu.

Auf dem Mundsburger Damm, haargenau an der Stelle, wo wir
uns zuletzt begegnet sind, fand ich heute einen toten Vogel - in einer Blutlache ...
Ich bete zu Gott. - Ich frage mich: Wer hat ihn aus meiner Nähe verbannt und weshalb?
Wer hat ihn vom Schoß dieser Erde verschleppt und wohin?

Ich verdächtige die Roten Khmer, den CIA, den Ku-Klux-Klan, al-Quaida ...
Ich alarmiere Amnesty International und errichte ein Funknetz.
Ich morse Tag und Nacht "Save our Souls" von Elbufer zu Elbufer.
Ich bin außer mir vor Sorge um dich und zittere vor Angst, ich zittere ...

Mein Radiosender spielt in letzter Zeit nahezu stündlich "I 'm missing you!"
Ich drehe die Musik auf volle Lautstärke, damit du sie hörst, wo immer du auch
sein magst, und Tinas kehlige Rock-Röhre lässt das Haus erbeben und driftet ab
nach Blankense - bis nach Blankenese ...

Meine Nachbarin denunziert mich beim Vermieter: Ich sei jetzt total übergeschnappt;
ein hoffnungsloser Fall, reif für die Klapsmühle. Es sei an der Zeit, dass er mich
an die Luft setze - an die frische Luft!

Sie beschwert sich beim Senat und fordert ihn auf, mich unverzüglich
des Landes zu verweisen, sie plädiert dafür, mich in die Wüste zu schicken,
in den Wahlkampf, in die Verbannung, nach Sibirien, in die Feuerzonen
sinnloser Kriege, in den Gazastreifen, nach Bayern ...

Der Justizsenator handelt mit unübertrefflicher Güte: Er verhängt eine
Stromsperre über Barmbeck für die Dauer von lediglich zwei Stunden, damit
ich endlich zur Vernunft komme.

Ich schäme mich entsetzlich und wage mich tagelang nicht vor die Tür, aus
Angst, gesteinigt zu werden!

Mein Psychiater zieht ein bedenkliches Gesicht und legt die hohe Stirn
in verschiedene Falten. Er diagnostiziert kognitive Störungen, starke Verlustängste,
eine depressive Psychose und eine leichte Form von Schizophrenie,
der helle Wahnsinn, eh!

Er überhäuft mich mit Medikamenten wie Zyprexa, damit ich deine Stimme
nicht mehr höre; er verordnet Mareen 50, damit ich dich nicht mehr vermisse;
er verschreibt Lorazepam, damit ich ich ganz schnell vergesse; Lorazepam ...
gegen meine Liebe zu dir, unsere Liebe ... Er will mich vergiften.

Ich wende schüchtern ein, ob es nicht wirkungsvoller sei, früh morgens um
die Außenalster zu joggen - wegen der gesunden Nebeneffekte,
wegen der zur Ausschüttung kommenden Botenstoffe Dopamin und Serotonin,
die die Menschen glücklich machen, glücklich und froh ...
Er äugt empört über den Rand seiner Hornbrille und tut so, als sähe er mich
zum ersten Mal: Wenn Blicke töten könnten!!!!

Ich schlucke mit Todesverachtung die verordnete Tagesration Toxin und komme
am späten Abend zu folgendem Ergebnis:

Wir werden uns erst in fünf Jahren wiedersehen.
Wir werden uns niemals wiedersehen.
Wir werden uns erst wiedersehen, wenn Gott es will.
Ich werde dich so lange lieben (müssen), bis wir uns wiedersehen,
falls wir uns überhaupt jemals wiedersehen, weil nichts und niemand dich
entzaubern kann: Du nicht, ich nicht und niemand anders. Auch Merlin nicht,
und Harry Potter schon gar nicht. Eher noch Mo oder Staubfinger ...

Falls wir uns niemals wiedersehen, werde ich dich für den
Rest meines Lebens lieben (müssen).
Ich werde keinen anderen Mann mehr lieben (können).

Und das ist sowas von gemein!

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