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Zikade! Tönender Stern
über den schlafenden Äckern,
du alte Freundin der Frösche
und der verborgenen Grillen,
Grabmäler hast du aus Gold
im zitternden Schmelz der Sonne,
die süß dich im Sommer versehrt,
und die Sonne entlockt dir die Seele,
auf dass sie werde zu Licht.
(Zikade!, 7.Vers; Federico García Lorca)
Nächtlicher Besuch oder Tote leben länger (Teil 27; Text 1)
In die Veranda zurückgekehrt, stellte ich fest, dass außer Hannes und mir niemand im derzeit kühlsten Raum des Hauses weilte.
Was Oma auch immer von mir gewollt hatte: sie schien es sich anders überlegt zu haben.
Wäre sie ohne Umschweife mit der Sprache herausgerückt, hätte ich sie dort gewiss nicht stehenlassen wie ein altes Haus, das für den Abriss bestimmt ist, überlegte ich, als mich mein schlechtes Gewissen zu plagen begann.
Wir hörten Kröger vom Wandapparat im Salon der Gnädigsten mit der Polizei telefonieren, verstanden jedoch kaum mehr als ein paar Wortfetzen, weil Heiner gerade dabei war, den Tragarm des Höhenförderers einzufahren, was ein nervtötendes Gekreische verursachte.
„Kein Wort zu Karla“, bat Hannes' Vater Hannes und mich, als wir wieder auf dem Hof standen. „Sie regt sich sonst zu sehr auf. Die Polizeibeamten werden spätestens in zwei Stunden hier sein.“
„Aber wenn die Spürhunde auf dem Hof ...“, begann Hannes und warf Luchs einen abfälligen Blick zu.
„... dann ist für Erklärungen immer noch Zeit genug“, fiel Kröger ihm ins Wort. „Wo zum Teufel steckt eigentlich dieser Oskar schon wieder. Er könnte mir bei der Reparatur des Futterschneider-Getriebes zur Hand gehen.“
Sein Blick blieb an Hannes hängen, der spontan seinen Kopf einzog. Kröger presste die Lippen zusammen.
„Falls Oskar euch über den Weg laufen sollte, dann schickt ihn bitte in den Maschinenschuppen.“
„Ja, Papa“, nickte Hannes mit kleinlauter Stimme. Dass er erleichtert war, weil sein Vater ihn nicht zur Mithilfe herangezogen hatte, war unschwer zu überhören.
„Ich bin der Ansicht, dass es keine gute Idee ist, die Gnädigste nicht einzuweihen. Was meinst du, Hannes?“
„Finde ich auch, Katja“, stimmte Hannes mir zu. „Hoffentlich bekommt Frau Brandner keinen Herzinfarkt, wenn die Kripo mit einer Hundemeute hier auftaucht.“
„Wir sollen vermutlich glauben, dass er tot ist, dieser obskure Hoferbe“, nahm Hannes nachdenklich meinen heimlichen Verdacht auf. „Dann braucht er nicht nur nicht zu zahlen, sondern kann sich auch aus der Affäre ziehen, was den Mord an Knut betrifft. Ein wirklich schlauer Bursche!“
„Ich glaube auch nicht, dass Helge entführt wurde oder gar tot ist“, sagte ich leise. „Das Ganze kommt mir eher wie eine gut gelungene Inszenierung vor. Diese blaue Arbeitsjacke hat er in letzten Zeit überhaupt nicht getragen. Dazu war es nämlich viel zu heiß.“
„Das kriegen die von der Kripo doch ganz leicht raus. Die machen ganz einfach eine Blutanalyse“, belehrte mich Hannes und fuhr im Befehlston fort: „Lass uns jetzt Mittag essen, Katja. Bei Tante Selma gibt es Schweinebraten mit Mehlklößchen. Du isst bei uns. Ich sage gleich deiner Oma Anita Bescheid.“
Er sprang auf, raste durchs Herrenzimmer und riss die Tür zum Saal auf.
Falls dieser Kannibale glaubt, dass ich mir den Magen mit Mathildes sterblichen und infamerweise gegarten Überresten vollschlage, dann hat er sich gewaltig geschnitten, obgleich ich Mathilde zum Fressen gern habe, dachte ich entsetzt und machte mich aus dem Staub.
Als ich den Kuhsstall erreicht und mich auf dem Feld hinter dem uralten Gemäuer verkrochen hatte, drangen Hannes' alberne Lockrufe an mein Ohr. Sie tönten wie das Gebalze eines verliebten Taubers: „Katja, mein Täubchen! Komm! Komm! Das Essen ist fertig!“
Komm, putt, putt, putt, putt!, dachte ich amüsiert und: ... seit wann liest Hannes russische Literatur? Darin werden Frauen oft „Täubchen“ genannt. Ich verkniff mir das schallende Gelächter, das in mir aufgestiegen war, obwohl ich mich ganz allein auf weiter Flur befand, wo mich kein Mensch hätte hören können.
Nach gut zehn Minuten erhob ich mich aus dem Versteck, das ich mir vorsichtshalber hinter der Weißdornhecke eingerichtet hatte, die, ich kann es nicht oft genug wiederholen, nicht allein aus unmittelbarer Nähe einen derart üblen Gestank verströmt, dass man geneigt ist zu glauben, jemand hätte unweit eine Fischfabrik errichtet. Noch nicht mal die Jauche im Kuhstall kann gegen das kräftige Aroma anstinken. Man fragt sich, wie die Bienen, die sich unablässig lustvoll brummelnd auf die Blüten stürzen, diesen Pestmief aushalten, liebe Christine.
Ich hörte die Fladen jener Kühe, die aus irgendwelchen Gründen nicht mit auf die Weide durften, auf den Stallboden klatschen, vernahm das Klirren der Ketten und das Aufstampfen ihrer Hufe und schlenderte traumverloren den sonnenüberfluteten Weg zum Hof zurück.
„Ach, und ich dachte, du isst heute bei Tante Selma“, fragte Oma erstaunt, als ich mich in „ihrer" Küche blicken ließ.
„Dort gibt es heute Schweinebraten, wonach mir wahrhaftig nicht der Sinn steht“, sagte ich und verzog angewidert das Gesicht.
„Was gibt es denn bei uns?“
„Eierpfannkuchen mit Apfelmus. Du kannst auch Zimt und Zucker dazu bekommen“, beeilte sich Oma zu sagen und sah mich triumphierend an. „Das ist doch dein Leibgericht? Oder täusche ich mich schon wieder?“
„Nein, nein, Oma. Du hast vollkommen Recht“, pflichtete ich ihr eifrig bei, während mein Gaumen vor Freude zu schrumpeln begann. Ich beeilte mich, an den Esstisch zu kommen. Und statt mich in hysterischen Debatten über Gespenster und Trägerröcke behaupten zu müssen, womit ich fest gerechnet hatte, drehte sich alles um Opa, der wortlos und blass auf seinem Stuhl kauerte. Er hatte einen Schwächeanfall erlitten und sollte sich nach dem Mittagessen in einem Gemach neben Frau Brandners Wohnzimmer ausruhen, weil dort angeblich eine derart angenehme Temperatur herrschte, wie sie kein anderer Raum im Gutshaus bieten konnte. Das einzige Fenster dieses Zimmers lag im Schatten des überhängenden Verandadaches und ihrer rechtsseitigen Mauer, daran sich unzählige Blätter wilder Weinranken schmiegten, als sei sie ein rettender Engel bei zu viel Sonne und Wind. Und auch die grünen Wolkenzelte der Linden erschwerten der Sonne erheblich, das dicke Gemäuer, das massiv wie die Wände einer Ritterburg der Hitze und sämtlichen Feinden trutzte, in einen Brutofen zu verwandeln. Überdies fiel in das einzige Fenster dermaßen wenig Licht, dass es in jenem Raum selbst tagsüber höhlenhaft dunkel war. Es stand sogar zur Debatte, dass Opa dort die Nächte verbringen sollte.
Zumindest solange, wie das hochsommerliche Wetter andauerte, hatten