Gefährlicher Sommer (Teil 27; Text 1) - Page 3

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von Annelie Kelch

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sagte Hannes. „Das ist eine weit verbreitete Blutgruppe. Jetzt brauchen die Kripoleute nur noch rauszubekommen, ob das Blut auf der Jacke von ihm stammt.“

„Aber das ist doch längst eingetrocknet“, wandte ich ein.

„Spielt keine Rolle", erwiderte Hannes.

„Ich bin wahnsinnig müde“, stellte er zwei geschlagene Stunden später fest. Wenn ich nicht binnen zwanzig Minuten in die Falle komme, gefährde ich ernsthaft den Straßenverkehr.“

„Du meinst den Treckerfahrer, der dir eventuell in die Quere kommen könnte – auf den sechs Metern von der Dorfstraße bis zu Tante Selmas Haus?“
„Genau“, griente Hannes. „Aber das sind mindestens acht Meter, liebe Katja. Und dann die Unannehmlichkeiten, die Tante Selma wegen meiner Beerdigung hätte, nachdem sie doch in letzter Zeit so leiden musste – wegen des Überfalls und so ...“ Hannes machte ein Gesicht, als wollte er in Tränen ausbrechen.
Und ich habe immer gedacht, dass lediglich m e i n e Fantasie zügellos sei und zu ausufernd krankhaften Formen neige, liebe Christine.

„Du hast Recht, Hannes“, ging ich auf seine Hirngespinste ein. „Und damit du auch sicher nach Hause kommst, begleite ich dich bis vor die Tür.“

„Danke, Katja“, seufzte der Ärmste erleichtert.

Die Dunkelheit brach herein, und ich löste Mutti ab, die seit dem späten Nachmittag an Opas Bett Wache gehalten hatte. Es ging ihm immer noch nicht viel besser und den wenigen Worten nach zu urteilen, die ich mit ihm gewechselt hatte, fiel es ihm schwer, sich an sein neues Schlafgemach zu gewöhnen. Herr Wilms, Opas Hausarzt aus Beckum, hatte ihm gegen Abend eine Spritze verabreicht, damit sein Herzrasen endlich „die Kurve kratzte" und er schlafen konnte.
Ich saß am Fenster unter der großen Stehlampe und las im Schein eines Leuchtkörpers, der schwächer war als meine Taschenlampe zu Hause. Mutti hatte die Glühbirne, die recht passabel war, ausgewechselt, damit sich Opa von „meinem Licht“ nicht gestört fühlt. Mir war bis heute überhaupt nicht klar gewesen, dass ich über eine derart starke Ausstrahlung verfüge, liebe Christine. Jedenfalls war ich froh darüber, dass ich überhaupt lesen durfte. Es hatte einiges an Überredungskunst gekostet, Mutti davon zu überzeugen, dass ich anderenfalls einschlafen würde, womit Opas Gesundheit in keiner Weise gedient wäre und meine Nachtwache ihren Zweck völlig verfehlt hätte. Opa schnarchte jedoch friedlich vor sich hin, allerdings um etliche Töne sanfter als unsere gute Leni.

Bevor ich die Gardinen zuzog, spähte ich aus dem halb geöffneten Fenster, dessen äußerer Sims, noch aufgeheizt von der Sonne, über und über mit Löwenzahn-Flusen bedeckt war. Die Nacht duftete nach Heu, Stallmist und Flieder. Sie war von einem silbernen Sommermond erhellt, der sein blasses Licht über den Hof goss und total verrückte Schatten pinselte, und ich konnte zwischen den Stämmen der Linden die Kastanienallee hinab und auf die Dorfstraße blicken. Der Himmel wölbte sich wie ein tiefblauer Schleier über den stillen Hofplatz, unterbrochen vom Funkeln vereinzelter Sterne. Eines der Pferde schnaubte leise. Im Traum, nahm ich an; denn es klang wie ein tiefer Seufzer und ging mir zu Herzen.

Von den Linden her zog ein süßlicher Duft in den Abend, der sich über den Hof verströmte und zum Fenster hereinwehte. Drunten am Teich plärrten die Frösche, zu Hunderten, wie mir schien, ihr letztes Nachtgebet. Aus einem der Nachbarhöfe im Dorf hörte man das klägliche Meckern eine Ziege, in das sich der heiserne Ruf einer Rohrdommel mischte. Fehlte nur noch, dass ich die Grasmücken singen hörte!

Über den hohen Wipfeln der Linden, die wie riesige, dunkle Soldaten vor dem Herrenhaus aufragten, hing ein silberbleicher, rätselhaft schimmernder Vollmond, dessen Licht in sanfter, unaufdringlicher Manier über den vom Schleier der Dunkelheit geheimnisvoll schauernden Hof und die Allee floss. Er schwebte wie ein hauchdünner Porzellanscherben zwischen den Sternen, eine bizarre papierne Laterne, die ein Wache haltender Engel in den nachtblauen Himmel hielt. In seinem fahlgelbem Licht erkannte ich deutlich die Vorderfront der Stallungen, deren messerscharfe schwarze Konturen schattenhaft emporragten. Die Kastanienbäume standen trotz des silbern schimmernden Mondlichts fast unsichtbar im Schatten der Dämmerung. Irgendwo knarrte ganz leise eine Tür. Meine Blicke schweiften über den Hof und hefteten sich auf den kleinen Zaun, der die rechte Hofhälfte zwischen Pferde- und Hühnerstall teilte. Dort hockte oder stand irgendetwas, das nicht die geringste Andeutung einer Bewegung machte. Für ein Huhn zu groß, aber viel zu klein für ein Pferd, überlegte ich. Ein Futtertrog, ein alter Hocker, ein riesiger Futtereimer, eine Schubkarre?, rätselte ich versonnen.
Eine Schubkarre, ja, das musste eine Schubkarre sein. Ich konnte und wollte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dort ein lebendiges Wesen lauerte. Womöglich auf mich, auf das unglücklichste Geschöpf dieses Sommers, wenn man von deiner Tragödie einmal absieht, liebe Christine.
Alles dort hinten schien Schatten zu sein. Selbst die Stallungen sahen wie ihre eigenen Schatten aus. Am liebsten hätte ich die geheimnisvolle Stelle, die mich mehr beunruhigte, als ich zugeben wollte, mit einer Taschenlampe ausgeleuchtet. Schade, dass ich meine zu Hause vergessen hatte.
Und wenn ich Oma frage ..., überlegte ich fieberhaft. Falls Mutti noch wach war, würde sie mich sicher im Saal abfangen und dumme Fragen stellen, wie zum Beispiel: Was willst du um diese Zeit mit einer Taschenlampe? – Wann denn sonst, wenn nicht im Dunkeln? (Ein Gedanke, den ich umgehend würde inhaftieren müssen, damit er mir nicht über die Zunge entwischte und mir eine Ohrfeige eintrug.)
Willst du deinem Opa etwa ins Gesicht leuchten?, würde sie schließlich ironisch fragen und beim morgigen Frühstück Oma mein „drolliges“ abendliches Anliegen bis ins kleinste Detail schildern. Und beide würden sich über das unmögliche Benehmen dieses überdrehten Kindes wieder mal kaputtlachen.
Seit ich im Schweinestall genächtigt habe, kicherten sie manchmal, wenn ich unerwartet in ihrer Nähe auftauchte, und zwar auf eine derart peinliche Weise, dass ich mich ernsthaft zu fragen begann, wer von uns den „Dachschaden“ hatte. Mein angeblich skandalöses Stall-Intermezzo schien die beiden Weibsbilder noch erheblich heftiger zu erheitern als die Faxen von Heinz Erhardt.

Zwei Stunden später hatte sich die Luft merklich abgekühlt; sie war viel klarer als am Nachmittag, und über dem Hof schwebte jetzt eine Duftwolke aus rotem Klee, die ich begierig einsog. Hof Lachau ist

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