Gefährlicher Sommer (Teil 27; Text 1) - Page 4

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von Annelie Kelch

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ein Traum, bei Nacht noch herrlicher als am Tage, dachte ich entrückt, obwohl mir das vertraute Gut im Zwielicht fremder vorkam als sonst.

Die Blätter der Linden, die bühnenbildreif vor dem Herrenhaus wachten, schwankten leise im sanften Hauch der kühlen Abendluft, die tastend um das alte Gemäuer strich und die Vorhänge vor den geöffneten Fenstern bauschte, und aus den sich neigenden Wolken schwebte ein feiner Dunst herab, der sich auf den langen Schatten der Bäume niederließ. Aus weiter Ferne sickerte das leise, monotone Stottern eines Traktors in die friedliche Dorfstille. Das kam mir in Anbetracht der ziemlichen Dunkelheit derart seltsam vor, dass ich spontan meinen Blick zum Himmel hob, um sicherzugehen, dass nicht etwa ein hellsichtiger Urahn, der bereits wusste, mit welchem Ende dieser Sommer das Feld zu räumen gedachte, die Spreu des Tages unter den Sternenacker pflügte, sozusagen als brandheißen Tipp für den aufmüpfigen weiblichen Abkömmling, die Nase nicht in Mordsachen zu stecken, die sie nichts angingen. „Aber Knut war doch mein bester Freund ...“, flüsterte ich in die Blätter der Linden hinein, deren Duft jetzt warm und betäubend in der frischen Nachtluft hing.

Im Schweinestall brannte noch Licht; es drang fahl durch das winzige, staubbeschlagene Fenster, und obgleich ich Lisa für eine außergewöhnlich schlaue Sau hielt, überstieg es meine Vorstellungskraft, dass sie es angeknipst haben könnte – etwa in der Absicht, mir das Auffinden meines vermeintlichen Schlafplatzes zu erleichtern. Ich wusste zwar, dass Luchs vor der Veranda lag und das Haus bewachte, scheute mich jedoch, in der Dunkelheit über den Hof zu tappen und dafür zu sorgen, dass die Stromrechnung für das Gut im laufenden Jahr nicht den Rahmen sprengte. Ehrlich gesagt, befürchtete ich einerseits, die Schubkarre könnte wider Erwarten über zwei Beine verfügen, andererseits durfte ich Opa nicht aus den Augen lassen. Bevor ich mich in mein Buch vertiefte, verschlang ich die Fliederbeersuppe, die Leni auf die Schnelle für Opa gekocht und dabei offensichtlich vergessen hatte, dass er Holunder allenfalls als Hühnerfutter akzeptierte. Irgendwann nickte ich ein, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, Opas Schlaf zu bewachen.

Als ich jäh erwachte, war es stockdunkel. Die Gardinen waren zugezogen, und irgendjemand hatte die Stehlampe ausgeschaltet und meine Füße auf eine kleine Polsterbank gebettet. Das Buch, darin ich zuletzt gelesen hatte, lag auf dem Tischchen neben dem Sessel, den ich nah ans Fenster gerückt hatte.
Ich schlich mich an Opas Bett und lauschte voller Panik auf seinen Schlaf. Schließlich hatte ich die Nachtwache übernommen und war gleich beim ersten Mal eingeschlafen. Zu meiner großen Erleichterung atmete Opa ruhig und gleichmäßig, ohne auch nur den winzigsten Schnarcher von sich zu geben. Beruhigt kuschelte ich mich in meinen Sessel zurück, löschte das Licht und versuchte ein wenig zu dösen, was mir nicht gelang. Ich war hellwach, und die Minuten schleppten sich vorwärts wie ein langweiliges Hörspiel.

Hannes!, war mein erster Gedanke, als ich das gedämpfte Klicken von Steinchen gegen das Fenster vernahm: Mit den Hühnern ins Bett gefallen und dann keinen Schlaf mehr gefunden! Typisch Hannes! Merklich übernächtig knipste ich die kleine Lampe wieder an, zog ich die Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster.
Auf den Hof war die Nacht eingefallen. Tausende kleiner Insekten schwirrten im fahlen Licht der Scheiben umher. Die Äste der Linden knarrten leise im Abendwind.
„Ach so, Tote schlafen ja nicht“, murmelte ich schläfrig, starrte entgeistert in Helges mondbeschienenes, käsebleiches Gesicht und stotterte: „Äh, ich meine natürlich, der Totgesagte mit dem kollosalen Blutverlust hat nach Hause zurückgefunden.“
Eiskalter Schweiß braute sich zwischen Nase und Mund und auf meiner Stirn. Mann, hatte der Nerven, hier mitten in der Nacht aufzukreuzen. Er war noch nicht mal vermummt. Ich hätte mich ohrfeigen können für den Blödsinn, den ich unter Schock von mir gegeben hatte. Es verhielt sich nur so, dass mir niemals in den Sinn gekommen wäre, ausgerechnet in dieser Nacht Helges Geist zu Gesicht zu bekommen.

„Halt dein großes Mundwerk, Katja Kleve“, zischte Helge, was mir bewies, das er noch drastisch unter den Lebenden weilte, obwohl ich in jenem Moment wirklich nicht wusste, ob ich mich darüber freuen oder weinen sollte.

„Ich weiß, dass dein Opa da drin ist. Falls er aufwacht, dann tu so, als sei ich das Blag vom Gutsinspektor, dieser Plagehannes ...“

Ich schnappte vor Empörung nach Luft.

„Und keine Mätzchen, sonst ...“, drohte der Hoferbe und machte eine Handbewegung, als wolle er ein Seil um meinen Hals schlingen. Er kam meiner Kehle bedrohlich nahe.

Keine Mätzchen, sonst ..., wiederholte ich lautlos.

Helges Worte rieselten wie Hagelkörner, den ein eisiger Luftzug auf das Fensterbrett gewirbelt hatte, und mir wurde bitterkalt ums Herz, als sie vor mir niederfielen. In meinem Magen flammte ein Gefühl auf, als hätte ich Fisch gegessen, der nicht ausgenommen war.

„Wa-wa-was willst du?“, stammelte ich.
„Habt ihr diesem Kommissar irgendwas über mich erzählt?“
„Nein, wieso? Kein Sterbenswörtchen!“, tat ich erstaunt.
Ein Nachtvogel schrie, als wollte er mich der Lüge bezichtigen. Mir stieg augenblicklich garantiert purpurne Röte ins Gesicht, was man in der Dunkelheit Gott sei Dank nicht sehen konnte.

„Katja“, seufzte Opa in diesem Moment.

Helge sprang für einen Toten sehr behände einen Schritt zur Seite, liebe Christine.

„Hältst du Selbstgespräche oder sprichst du mit einem Phantom namens Hannes?“
Ich sah, dass Opa lächelte und trat an sein Bett. Sein Gesicht glänzte im Dämmerschein, und ich wischte ihm den Schweiß von der Stirn.
„Es weht so herrlich frische Luft ins Zimmer. Laß bitte das Fenster noch ein wenig geöffnet. Aber die Stehlampe solltest du ausknipsen, sonst piesacken uns die Mücken. Hast du einen Schluck Wasser für mich?“
„Klar Opa“, sagte ich und reichte ihm das Glas, das auf dem Nachttisch stand.
„Fühlst du dich einigermaßen gut oder muss ich deine Temperatur messen?“
„Tut nicht nötig“, murmelte Opa im Halbschlaf. „Ich bin müde. Dieser Sommer wird mich noch ersticken. Das Beste für mich ist Schlaf, damit ich morgen wieder in der Laube sitzen kann.“ Er nickte mir zu, drehte sich zur Wand und glitt hinüber ins Reich der Träume.

Als ich mich aus dem Fenster beugte, tauchte Helge so plötzlich wieder auf, wie er verschwunden war, aber meine Angst war inzwischen verflogen. Ein schwacher Lichtschein fiel auf sein Gesicht: Im Zimmer über der Veranda hatte jemand die Deckenlampe angeknipst.
„Was willst du eigentlich von mir?“, fragte ich ruhig und sah ihm geradewegs in die Augen. Das nunmehr blasse, kümmerliche Mondlicht verlieh seinem ohnehin aschfahlen Gesicht eine derart geisterhaft grünlich-käsige Totenblässe, dass mir eine Gänsehaut über den Rücken lief.

„Hast du Knut erschossen?“, fragte ich schließlich. Helge schwieg immer noch immer und wandte sein Gesicht ab.
„Nein! Ich war es nicht“, fauchte er unvermittelt. Er dachte offenbar nicht daran zu verschwinden, obwohl die Gnädigste über uns wach geworden war und ihn hätte entdecken können.

Dann hilf uns wenigstens herauszufinden, wer es getan hat. Wir wollen dein Geld nicht. Wir sagen auch nicht, dass du Kora entführt hast und mich ertränken wolltest. Dann wird alles wieder gut.
Keiner der Sätze, die mir durch den Kopf schossen, verließ auch nur ansatzweise meine Lippen. Es war, als ahnten meine Gedanken, dass diese Worte eine Entlassung aus meinem Hirn in die Freiheit mit dem Leben bezahlen mussten, dass sie hochexplosiv waren und überdies weiteres Unheil anrichten könnten.

„Du darfst meiner Mutter bestellen, dass ich erst wiederkomme, wenn der wahre Mörder gefasst ist. Das dauert nicht mehr lange, darauf könnt ihr Gift nehmen.“
Pah, dachte ich. Das könnte dem so passen. Darauf kann er lange warten.

Als habe er meine Gedanken gelesen, packte Helge mein rechtes Handgelenk und presste sekundenlang mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft meine Knochen zusammen. Und Kraft hatte er zur Genüge – von der bein- und armharten Stallarbeit. Es fühlte sich an, als wäre mein Gelenk in eine Schraubzwinge geraten, und die Grimasse, die er dabei zog, jagte mir frostige Schauer über den Rücken, liebe Christine. Wenn Opa nicht gewesen wäre, hätte ich vor Schmerzen wie am Spieß geschrien.

„Lass mich sofort los, sonst schreie ich so laut, dass mein Opa aufwacht“, zischte ich. Helge ließ sofort meinen Arm los und schielte mit zusammengekniffenen Augen zum Bett hinüber. Erstaunlicherweise enthielt er sich einer gehässigen Bemerkung. Offenbar war Opas Güte sogar zu diesem Scheusal vorgedrungen.

Ich blickte Helge nach, bis sein schemenhafter Umriss hinter den nachtdunklen Bäumen verschwunden war und die samtige Dunkelheit seine Silhouette verschluckt hatte. Seine schweren Schritte hallten noch eine Weile durch die Finsternis, und ich atmete tief auf, als sie endlich verklungen waren.
Bevor ich mein inneres Gleichgewicht wiederfand, hatte er sich vom Fenster entfernt und war aus dem Lichtkegel hinaus in den dunklen Hof getreten. Ich hoffte, er würde in einen frischen Pferdeapfel trampeln, den Heiner bei der abendlichen Hofreinigung übersehen hatte, wenn denn schon die Mistforke, die ihn mit einem Schlag vorübergehend kampfunfähig gemacht hätte, zu meinem Bedauern vorschriftsmäßig an der Mauer des Geräteschuppens lehnte, statt auf dem Hof herumzuliegen. Ich warf einen letzten Blick auf den freundlich herableuchtenden Mond, der so gar nicht in diese Horrorszene passte, schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu.

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