Großer Vater

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von Marie Mehrfeld

himmelblau wachsame Augen, wissende Seen mit Tiefen,
weiß weicher Stachelbart, wohlig geschaudert, harte Falten
gegerbt um Mund, um Nase, durchschnitten die Stirn, des Grams,

des Zweifelns, Zeit des langen Lebens, des vergeblichen Hoffens, des
Bangens in Nächten der Kriege, der Einsamkeit in Gedanken, Mann des
Ostwinds, leugnetest Du Deinen Ursprung nicht, Heimat und Ausbund

an Treue und erste Liebe warst Du für mich, wärmende Stimme im
Bass, wenn Du erzähltest vom großen König, dem Krummen mit
Dreispitz und Krückstock und dürren Hunden, schnell wie der

Wind, träume ich von, rede ich mit Dir, und Du schaust mich
an, immer noch, hin und wieder, anerkennend, bist Du Teil
von mir, so lange ich atme, hoch verehrter Großer Vater

Nicht nur in unserem Kulturkreis brauchen Menschen das Gedenken an Vorfahren für ihr inneres Gleichgewicht und zur Bestätigung der eigenen Identität. Wir hängen sie in Öl gemalt an die Wand, pflegen und schmücken ihre Gräber, doch auch anonym beerdigt sind sie ein Teil von uns. Wir widmen ihnen besondere Feiertage, an Allerheiligen, am 1. November, leuchten rote Lichter auf Friedhöfen. Wir bewahren ihre Portraits sorgfältig auf, um sie an die weiter zu geben, die nach uns kommen und fragen uns, ob wir ihnen ähneln. Wir stellen ihnen Fragen und erhalten Antworten, wenn wir es zulassen. An manchen Ahnen hängen wir besonders, weil wir eine gute Zeit mit ihnen verbracht haben und uns von ihnen geliebt fühlten. So geht es mir mit dem lange verstorbenen Großvater, der mir immer noch nahe steht. Da ich mir nicht sicher bin, ob es ihm gefallen würde, sein Gesicht veröffentlicht zu sehen, habe ich es stark verfremdet.

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