Casanovas Heimfahrt - Page 9

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Schreibart nach gewiß als das Muster eines Sophisten bezeichnen dürfen, und trotzdem wird es niemandem einfallen, auch mir nicht, der ich mich als seinen entschiedenen Gegner bekenne, ja, wie ich nicht leugnen will, eben damit beschäftigt bin, eine Schrift gegen ihn zu verfassen, auch mir fällt es nicht ein, seiner außerordentlichen Begabung die gebührende Anerkennung zu versagen. Und ich bemerke gleich, daß ich mich nicht etwa durch die übertriebene Zuvorkommenheit habe bestechen lassen, die mir Herr Voltaire bei Gelegenheit meines Besuchs in Ferney vor zehn Jahren zu erweisen die Güte hatte.«– Marcolina lächelte. »Das ist ja sehr hübsch von Ihnen, Chevalier, daß Sie den größten Geist des Jahrhunderts so milde zu beurteilen die Gewogenheit haben.« – »Ein großer Geist – der größte gar?« rief Casanova aus. »Ihn so zu nennen, scheint mir schon deshalb unstatthaft, weil er bei all seinem Genie ein gottloser Mensch, ja geradezu ein Gottesleugner ist. Und ein Gottesleugner kann niemals ein großer Geist sein.« – »Meiner Ansicht nach, Herr Chevalier, bedeutet das durchaus keinen Widerspruch. Aber Sie werden vor allem zu beweisen haben, daß man Voltaire einen Gottesleugner nennen darf.« –

Nun war Casanova in seinem Element. Im ersten Kapitel seiner Streitschrift hatte er eine ganze Menge von Stellen aus Voltaires Werken, vor allem aus der berüchtigten ›Pucelle‹ zusammengetragen, die ihm besonders geeignet schienen, dessen Ungläubigkeit zu beweisen; und die er nun dank seinem vorzüglichen Gedächtnis, zusammen mit seinen eigenen Gegenargumenten, wörtlich zu zitieren wußte. Aber in Marcolina hatte er eine Gegnerin gefunden, die ihm sowohl an Kenntnissen wie an Geistesschärfe wenig nachgab und ihm überdies, wenn auch nicht an Redegewandtheit, so doch an eigentlicher Kunst und insbesondre an Klarheit des Ausdrucks weit überlegen war. Die Stellen, die Casanova als Beweise für die Spottlust, Zweifelsucht und Gottlosigkeit Voltaires auszulegen versucht hatte, deutete Marcolina gewandt und schlagfertig als ebenso viele Zeugnisse für des Franzosen wissenschaftliches und schriftstellerisches Genie, sowie für sein unermüdlich heißes Streben nach Wahrheit, und sie sprach es ungescheut aus, daß Zweifel, Spott, ja daß der Unglaube selbst, wenn er mit so reichem Wissen, solch unbedingter Ehrlichkeit und solch hohem Mut verbunden sei, Gott wohlgefälliger sein müsse als die Demut des Frommen, hinter der sich meist nichts andres verberge, als eine mangelhafte Fähigkeit, folgerichtig zu denken, ja oftmals – wofür es an Beispielen nicht fehle – Feigheit und Heuchelei.

Casanova hörte ihr mit wachsendem Staunen zu. Da er sich außerstande fühlte, Marcolina zu bekehren, um so weniger, als er immer mehr erkannte, wie sehr eine gewisse schwankende Seelenstimmung seiner letzten Jahre, die er als Gläubigkeit aufzufassen sich gewöhnt hatte, durch Marcolinens Einwürfe sich völlig aufzulösen drohte, so rettete er sich in die allgemein gehaltene Betrachtung, daß Ansichten, wie Marcolina sie eben ausgesprochen, nicht nur die Ordnung im Bereich der Kirche, sondern daß sie auch die Grundlagen des Staates in hohem Grade zu gefährden geeignet seien, und sprang von hier aus gewandt auf das Gebiet der Politik über, wo er mit seiner Erfahrung und Weltläufigkeit eher darauf rechnen konnte, Marcolinen gegenüber eine gewisse Überlegenheit zu zeigen. Aber wenn es ihr hier auch an Personenkenntnis und Einblick in das höfisch-diplomatische Getriebe gebrach und sie darauf verzichten mußte, Casanova im einzelnen zu widersprechen, auch wo sie der Verläßlichkeit seiner Darstellung zu mißtrauen Neigung verspürte; – aus ihren Bemerkungen ging unwidersprechlich für ihn hervor, daß sie weder vor den Fürsten dieser Erde noch vor den Staatsgebilden als solchen sonderliche Achtung hegte und der Überzeugung war, daß die Welt im Kleinen wie im Großen von Eigennutz und Herrschsucht nicht so sehr regiert, als vielmehr in Verwirrung gebracht werde. Einer solchen Freiheit des Denkens war Casanova bisher nur selten bei Frauen, bei einem jungen Mädchen gar, das gewiß noch keine zwanzig Jahre zählte, war er ihr noch nie begegnet; und nicht ohne Wehmut erinnerte er sich, daß sein eigener Geist in vergangenen Tagen, die schöner waren als die gegenwärtigen, mit einer bewußten und etwas selbstzufriedenen Kühnheit die gleichen Wege gegangen war, die er nun Marcolina beschreiten sah, ohne daß diese sich ihrer Kühnheit überhaupt bewußt zu werden schien. Und ganz hingenommen von der Eigenart ihrer Denk- und Ausdrucksweise vergaß er beinahe, daß er an der Seite eines jungen, schönen und höchst begehrenswerten Wesens einherwandelte, was um so verwunderlicher war, als er sich mit ihr ganz allein in der nun völlig durchschatteten Allee, ziemlich weit vom Wohnhaus, befand. Plötzlich aber, sich in einem eben begonnenen Satz unterbrechend, rief Marcolina lebhaft, ja wie freudig aus: »Da kommt mein Oheim!«... Und Casanova, als hätte er Versäumtes nachzuholen, flüsterte ihr zu: »Wie schade. Gar zu gerne hätte ich mich noch stundenlang mit Ihnen weiter unterhalten, Marcolina!« – Er fühlte selbst, wie während dieser Worte in seinen Augen die Begier von neuem aufzuleuchten begann, worauf Marcolina, die in dem abgelaufenen Gespräch in aller Spöttelei sich fast zutraulich gegeben, sofort wieder eine kühlere Haltung annahm, und ihr Blick die gleiche Verwahrung, ja den gleichen Widerwillen ausdrückte, der Casanova heute schon einmal so tief verletzt hatte. Bin ich wirklich so verabscheuungswürdig? fragte er sich angstvoll. Nein, gab er sich selbst zur Antwort. Nicht das ist's. Aber Marcolina – ist kein Weib. Eine Gelehrte, eine Philosophin, ein Weltwunder meinethalben – aber kein Weib. – Doch er wußte zugleich, daß er sich so nur selbst zu belügen, zu trösten, zu retten versuchte, und daß diese Versuche vergeblich waren. Olivo stand vor ihnen. »Nun«, meinte er zu Marcolina, »hab' ich das nicht gut gemacht, daß ich dir endlich jemanden ins Haus gebracht habe, mit dem sich's so klug reden läßt, wie du's von deinen Professoren in Bologna her gewohnt sein magst?« – »Und nicht einmal unter diesen, liebster Oheim«, erwiderte Marcolina, »gibt es einen, der es sich getrauen dürfte, Voltaire selbst zum Zweikampf herauszufordern!« – »Ei, Voltaire? Der Chevalier fordert ihn heraus?« rief Olivo, ohne zu verstehen. – »Ihre witzige Nichte, Olivo, spricht von der Streitschrift, die mich in der letzten Zeit beschäftigt. Liebhaberei für müßige Stunden. Früher hatte ich Gescheiteres zu tun.« Marcolina, ohne auf diese Bemerkung zu achten, sagte: »Sie werden eine angenehme kühle Luft für Ihren Spaziergang haben. Auf Wiedersehen.«

Veröffentlicht / Quelle: 
Erzählungen. Fischer Taschenbuch Verlag, 1998

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