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erwünscht; so beschloß er, vorläufig hier zu bleiben, befreite sich vom Staub und Schmutz der langen Reise, überlegte eine Weile, ob er sich in sein Prachtgewand werfen sollte, fand es dann doch angemessen, wieder das bescheidenere anzulegen, und verließ endlich den Gasthof. Nur hundert Schritte waren es, durch ein schmales Gäßchen und über eine Brücke, zu dem kleinen vornehmen Palazzo, in dem Bragadino wohnte. Ein junger Bedienter mit einem ziemlich unverschämten Gesicht nahm Casanovas Anmeldung entgegen, tat, als wenn er den berühmten Namen niemals gehört hätte, kam aber mit einer etwas freundlicheren Miene aus den Gemächern seines Herrn wieder und ließ den Gast eintreten. Bragadino saß an einem nah ans offene Fenster gerückten Tisch beim Frühstück; er wollte sich erheben, was Casanova nicht zuließ. – »Mein teuerer Casanova«, rief Bragadino aus, »wie glücklich bin ich, Sie wiederzusehen! Ja, wer hätte gedacht, daß wir uns überhaupt jemals wiedersehen würden?« Und er streckte ihm beide Hände entgegen. Casanova ergriff sie, als wenn er sie küssen wollte, tat es aber nicht und erwiderte die herzliche Begrüßung mit Worten heißen Dankes in der etwas hochtrabenden Art, von der seine Ausdrucksweise bei solchen Gelegenheiten nicht frei war. Bragadino forderte ihn auf, Platz zu nehmen, und er fragte ihn vor allem, ob er schon gefrühstückt habe. Als Casanova verneinte, klingelte Bragadino dem Diener und gab ihm die entsprechende Weisung. Als der Diener sich entfernt hatte, äußerte Bragadino seine Befriedigung darüber, daß Casanova das Anerbieten des Hohen Rats ohne Vorbehalt angenommen; es werde ihm gewiß nicht zum Nachteil gereichen, daß er sich entschlossen habe, dem Vaterland seine Dienste zu widmen. Casanova erklärte, daß er sich glücklich schätzen werde, die Zufriedenheit des Hohen Rats zu erwerben. – So sprach er und dachte sich sein Teil dabei. Freilich von irgendwelchem Haß gegen Bragadino verspürte er nichts mehr in sich; eher eine gewisse Rührung über den einfältig gewordenen uralten Mann, der ihm da gegenübersaß mit dünngewordenem weißen Bart und rotgeränderten Augen, und dem die Tasse in der mageren Hand zitterte. Als Casanova ihn zum letztenmal gesehen hatte, mochte Bragadino etwa so viele Jahre zählen als Casanova heute; freilich war er ihm schon damals wie ein Greis erschienen.
Nun brachte der Diener das Frühstück für Casanova, der sich's, ohne sich viel zureden zu lassen, vortrefflich schmecken ließ, da er auf seiner Reise nur hier und da einen spärlichen Imbiß in Hast zu sich genommen. – Ja, Tag und Nacht war er von Mantua bis hierher gereist; – so eilig hatte er's, dem Hohen Rat seine Bereitwilligkeit, dem edlen Gönner seine unauslöschliche Dankbarkeit zu beweisen: dies brachte er zur Entschuldigung vor für die beinahe unanständige Gier, mit der er die dampfende Schokolade schlürfte. Durchs Fenster drangen die tausendfältigen Geräusche des Lebens von den großen und kleinen Kanälen; die Rufe der Gondelführer schwebten eintönig über alle andern hin; irgendwo, nicht zu weit, vielleicht in dem Palast gegenüber – war es nicht der des Fogazzari? – sang eine schöne, ziemlich hohe Frauenstimme Koloraturen; sie gehörte offenbar einem sehr jungen Wesen, einem Wesen, das noch nicht einmal geboren war zur Zeit, da Casanova aus den Bleikammern entflohen war. – Er aß Zwieback und Butter, Eier, kaltes Fleisch; und entschuldigte sich immer wieder ob seiner Unersättlichkeit bei Bragadino, der ihm vergnügt zusah. »Ich liebe es«, sagte er, »wenn junge Leute Appetit haben! Und soviel ich mich erinnere, mein teuerer Casanova, hat es ihnen daran nie gefehlt!« Und er entsann sich eines Mahls, das er in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft gemeinsam mit Casanova genossen – vielmehr, bei dem er seinem jungen Freunde bewundernd zugeschaut hatte – wie heute; denn er selbst war damals noch nicht so weit gewesen, es war nämlich, kurz nachdem Casanova den Arzt hinausgeworfen, der den armen Bragadino durch die ewigen Aderlässe fast ins Grab gebracht hatte... Sie redeten von vergangenen Zeiten; ja – damals war das Leben in Venedig schöner gewesen als heute. – »Nicht überall«, sagte Casanova und spielte durch ein feines Lächeln auf die Bleidächer an. Bragadino wehrte mit einer Handbewegung ab, als wäre nun nicht die Stunde, sich solcher kleiner Unannehmlichkeiten zu erinnern. Übrigens, er, Bragadino, hatte auch damals alles mögliche versucht, um Casanova vor der Strafe zu retten, wenn auch leider vergeblich. Ja, wenn er schon damals dem Rat der Zehn angehört hätte! –
So kamen sie auf politische Angelegenheiten zu reden, und Casanova erfuhr von dem alten Mann, der, von seinem Thema entzündet, den Witz und die ganze Lebendigkeit seiner jüngeren Jahre wiederzufinden schien, gar vieles und merkwürdiges über die bedenkliche Geistesrichtung, der ein Teil der Venezianer Jugend neuerdings anzuhängen, und über die gefährlichen Umtriebe, die sich in unverkennbaren Zeichen anzukündigen begännen; und er war gar nicht übel vorbereitet, als er sich noch am Abend desselben Tages, den er, in sein trübseliges Gasthofzimmer eingeschlossen, nur zur Beschwichtigung seiner vielfach aufgestörten Seele mit dem Ordnen und teilweisen Verbrennen von Papieren verbracht hatte, in das Café Quadri am Markusplatz verfügte, das als Hauptversammlungsort der Freidenker und Umstürzler galt. Durch einen alten Musiker, der ihn sofort wiedererkannte, den einstigen Kapellmeister des Theaters San Samuele, desselben, in dem Casanova vor dreißig Jahren Geige gespielt hatte, wurde er auf die ungezwungenste Weise in eine Gesellschaft von meist jüngern Leuten eingeführt, deren Namen ihm von seinem Morgengespräch mit Bragadino her als besonders verdächtige in Erinnerung verblieben waren. Sein eigener Name aber schien auf die andern keineswegs in der Art zu wirken, die zu erwarten er berechtigt gewesen wäre; ja die meisten wußten offenbar nicht mehr von Casanova, als daß er vor langer Zeit aus irgendeinem Grunde oder vielleicht auch ganz unschuldig in den Bleikammern gefangen gesessen und unter allerlei Fährlichkeiten von dort entkommen war. Das Büchlein, in dem er schon vor Jahren seine Flucht so lebendig geschildert hatte, war zwar nicht unbekannt geblieben, doch mit der gebührenden Aufmerksamkeit schien es niemand gelesen zu haben. Es machte Casanova einigen Spaß, zu denken, daß es nur von ihm abhinge, jedem dieser jungen Herrn baldigst zu persönlichen Erfahrungen über die Lebensbedingungen unter den Bleidächern von Venedig und über die Schwierigkeiten des Entkommens zu verhelfen; aber fern davon, einen so boshaften Einfall durchschimmern oder gar erraten zu lassen, verstand er es vielmehr, auch hier den Harmlosen und Liebenswürdigen zu spielen, und unterhielt bald die Gesellschaft nach seiner Art mit der Erzählung von allerlei heitern Abenteuern, die ihm auf seiner letzten Reise von Rom hierher begegnet waren; – Geschichten, die, wenn auch im ganzen ziemlich wahr, in Wirklichkeit immerhin fünfzehn bis zwanzig Jahre zurücklagen. Während man ihm noch angeregt zuhörte, brachte irgendwer mit andern Neuigkeiten die Kunde, daß ein Offizier aus Mantua in der Nähe des Landguts eines Freundes, wo er zu Besuch geweilt, umgebracht und die Leiche von den Räubern bis aufs Hemd ausgeplündert worden wäre. Da dergleichen Überfälle und Mordtaten zu jener Zeit nicht gerade selten vorkamen, erregte der Fall auch in diesem Kreise kein sonderliches Aufsehen, und Casanova fuhr in seiner Erzählung fort, wo man ihn unterbrochen hatte – als ginge ihn die Sache so wenig an wie die übrigen; ja von einer Unruhe befreit, die er sich nur nicht recht eingestanden hatte, fand er noch lustigere und frechere Worte als vorher.
Mitternacht war vorbei, als er nach flüchtigem Abschied von seinen neuen Bekannten unbegleitet auf den weiten leeren Platz hinaustrat, über dem sternenlos, doch ruhelos flimmernd ein dunstschwerer Himmel hing. Mit einer Art von schlafwandlerischer Sicherheit, ohne sich eigentlich bewußt zu werden, daß er ihn in dieser Stunde nach einem Vierteljahrhundert zum ersten Male wieder ging, fand er den Weg durch enge Gäßchen zwischen dunklen Häusermauern und über schmale Brückenstege, unter denen die schwärzlichen Kanäle den ewigen Wassern zuzogen, nach seinem elenden Gasthof, dessen Tor erst auf wiederholtes Klopfen sich träg und unfreundlich vor ihm öffnete; – und wenige Minuten später, in einer schmerzenden Müdigkeit, die durch seine Glieder lastete, ohne sie zu lösen, mit einem bittern Nachgeschmack auf den Lippen, den er gleichsam aus dem Innersten seines Wesens nach oben steigen fühlte, warf er sich, nur halb ausgekleidet, auf ein schlechtes Bett, um nach fünfundzwanzig Jahren der Verbannung den ersten, so lang ersehnten Heimatschlaf zu tun, der endlich, bei anbrechendem Morgen, traumlos und dumpf, sich des alten Abenteurers erbarmte.
Anmerkung
Ein Besuch Casanovas bei Voltaire in Ferney hat tatsächlich stattgefunden, doch alle in der vorstehenden Novelle daran geknüpften Folgerungen, wie insbesondre die, daß Casanova sich mit einer gegen Voltaire gerichteten Streitschrift beschäftigt hätte, haben mit der geschichtlichen Wahrheit nichts zu tun. Historisch ist ferner, daß Casanova sich im Alter zwischen fünfzig und sechzig genötigt sah, in seiner Vaterstadt Venedig Spionendienste zu leisten; wie man auch über manche andre frühere Erlebnisse des berühmten Abenteurers, deren im Verlaufe der Novelle beiläufig Erwähnung geschieht, in seinen ›Erinnerungen‹ ausführlichere und getreuere Nachrichten finden kann. Im übrigen ist die ganze Erzählung von ›Casanovas Heimfahrt‹ frei erfunden.
A. S.