Gefährlicher Sommer (Teil 4) - Page 3

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von Annelie Kelch

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bis zum Feierabend fehlten etliche Stunden, so dass wir bei seiner Rückkehr gewiss schon der Leichenstarre anheim gefallen wären, hätte der Kerl uns abgemurkst.
Eine beklemmend düstere Woche lang befürchtete ich, der Schwartenmann, wie ich den unheimlichen Tippelbruder in Gedan­ken getauft hatte, könne zurückkehren; aber zum Glück tauchte er nie wieder bei uns auf.

Wilma ließ sich vom feschen Fred nicht hinters Licht führen. Unbe­eindruckt von dessen hämischem Gelächter, mit dem er wahrscheinlich den be­tuchten Lord verunsichern wollte, verteilte sie flink wie ein Eichhörnchen auf der Flucht vor dem Habicht die Briefe und Karten an ihre Schützlinge - bis auf einen einzigen, einen rie­sigen, unheimlich dicken, der mit braunem Packpapier umwickelt war. Sie ver­steckte das Bündel um­ständlich hinter ihrem Rücken und warf verschwöre­rische Blicke in meine Richtung. Mir stockte vor lauter Aufre­gung fast der Atem.
„Christine“, schmeichelte sie, „für dich ist auch ein Brief gekom­men. Es ist fast ein kleines Päckchen. Du bekommst es erst, wenn du deine Übungen mit der Kranken­gymnastin gemacht hast. Wer der Absen­der ist, verrate ich nicht.“
Wilma lächelte vertraulich.
„Das ist eindeutig Er­pressung in Tathergang mit Nöti­gung. Sie sind verhaftet, Schwester Wilma!“, rief Miriam, der komplizierte Arm­bruch und unverkennbar Tochter eines Staatsan­walts, triumphierend, als führte sie seit Stunden nichts als Rache im Schilde. Rache an Wilma, die sich vor den Augen sämt­licher Zimmer­genossinnen er­dreistet hatte, sie mit einem Kinder­getränk zu be­lästigen. Die Mädchen lach­ten schadenfroh. Alle blickten ge­spannt zu Schwester Wilma hinüber. Es wurde mit einem Mal mucks­mäuschenstill im Zimmer; wir konnten die beiden alten Damen nebenan schnarchen hören. Miriam kicherte leise und blickte nervös von einem zum anderen, als wollte sie herausfinden, wer von uns Mädchen auf ihrer Seite war.
„Blöd­sinn“, ver­teidigte sich Wilma mit einiger Verzögerung und un­sicher klingen­der Stimme, was mich ziemlich amüsierte. Sie schob verlegen einen der Besucherstühle zurecht, an dessen tadelloser Haltung (aufrecht und im rechten Winkel zum Tisch) es nun wirklich nichts zu verrücken gab.
„Wenn Christine gelernt hat, sich mit den Krücken vorwärts zu be­wegen und auch Treppen damit steigen kann, darf sie nach Hause. Der Gips wird nämlich erst in sechs Wochen ent­fernt.“
Sie nickte mir aufmunternd zu. – Ahnte Wilma, wie schwer mir die Übungen fielen? Ich musste mir einfach mehr Mühe geben. Jedenfalls empfand ich den verheißungsvollen Brief als Ansporn. Schwester Wilma hatte ihr Ziel erreicht! –
„War ja nur Spaß“, maulte Miriam kleinlaut und ver­schanzte sich hinter ihrem Mathe­buch.

Ich dachte den ganzen Vormittag an Katja. Daran, dass Tante Agnes ihr mitt­lerweile bei­gebracht hatte, dass ich im Kran­kenhaus läge und in diesen Ferien nicht nach Lachau kommen könne. Daran, wie ihr jetzt wohl zu­mute war. – Wie hatten wir uns auf das Wiedersehen ge­freut! Die letzten Ferien auf Lachau waren einfach traum­haft ge­wesen und wie im Fluge vergangen. Wir bade­ten in den Kiesteichen rund um den Lachauer Forst, sattelten Herkules und Rhabar­ber und flogen wie die blauen Dragoner im uralt deutschen Liedgut über Wiesen und Felder; wir mach­ten mit unseren Rädern die Landstraßen und Nachbardör­fer unsicher und düsten mit einem Affenzahn durch den Lachauer Forst, als stünde der Mensch­heit Rübezahls Auferstehung bevor; wir plünder­ten die Obst­gärten und schoben unsere prallen Kirsch­bäuche vor uns her und die lange grüne Kastani­enallee hinunter, die von der Dorfstraße abzweigt und schnur­gerade zum Herrenhaus führt. Wir saßen unter dem wispernden Laubgewölbe der mächti­gen Kastanienbäume, die rechts und links der Auffahrt wachsen und während der heißen Sommertage ihre küh­len Schatten in den Hof werfen. Ihre dichten Wipfel erwecken den Eindruck, als würden sie über den breiten Sand­weg hinweg einander berühren, als tuschelten die dunklen Blätter miteinander - über Katja und mich und die Leute im Dorf.
Wir flüsterten nicht, Katja und ich; es gab keinen Grund zum Flüstern, dort konnte uns eh niemand hören. Wir unterhielten uns in einer ganz normalen Lautstärke, meistens über unseren grau­en Alltag, der sich – bedauerlicherweise – meilenweit von Hof Lachau entfernt ab­spielt. Wir redeten über die Schule und das Universum, über die kleine Welt, die auf Lachau an den Futtertrögen saß und über den Himmels­fürsten, der nicht nur die Zügel der Lachauer Pferde in seiner hoffentlich gütigen Hand hielt. Wir wurden des Erzählens nicht müde und lauschten unseren Worten nach, die sich mit der heißen Luft in grauen Schwaden aus dem Staub machten und zu den Blätterdächern der Bäume emporschwebten.
Wir mästeten voller Hingabe sämtliche Schweine und Hühner des Hofes, hal­fen Leni in der Küche, wobei sich Katja nach spätestens zehn Minu­ten zu ver­krümeln pflegte, weil sie keine Lust mehr hatte und lieber lesen wollte; wir al­berten mit meinem kleinen Bruder Leonhard herum, bauten komplizierte Ritter­burgen aus nassem Sand, mit vielen Türmen und Zinnen, mit breiten Wasser­gräben und instabilen Brücken, die Leo sprengen durfte, sobald der Feind bis zur Mitte vorgerückt war; wir leisteten Katjas Opa, der sich über Mittag in die schattige Laube zurückzuziehen pflegt, jeden Tag ein halbes Stündchen Gesell­schaft und ärgerten uns bisweilen über das nervige Stine-Gezeter von Tante Agnes.

In jenem Sommer war Knut noch am Leben. Obgleich er nach getaner Arbeit auf dem Gut am liebsten für sich war, durften wir ihn einige Male auf seinen Abendspaziergän­gen durch den Lachauer Forst begleiten. Knut er­kannte jeden Vogel an seinem Gesang – lange bevor er ihn zu Gesicht bekam. Er wusste mit schlafwandlerischer Sicherheit, wann alle Bäume, Sträucher und Blumen des Waldes zu blühen begannen, wo die Tiere ihre Höhlen gebaut und ihre Nester errichtet hatten und lenkte unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf die Viel­falt der Pflan­zen, die im Unterholz wuchsen. Bis zu jenem Zeitpunkt waren wir auf unseren Streif­zügen durch das große Waldgebiet achtlos an ihnen vorüber­geradelt. Knuts ganzer Stolz galt jedoch den ältesten Bäumen im Lachauer Ge­hölz. Einige Kiefern zähl­ten hundert­vierzig Jahre und mehr. Er kannte sogar die latei­nischen Namen der greisen Waldrie­sen. Ob Katja schon erfahren hatte, dass er er­mordet wurde? Jeden­falls hatten meine Eltern partout nicht gewollt, dass sie von dem Verbrechen erführe. Ich durfte Knut in meinen Briefen an Katja mit keiner Sil­be erwähnen. Vermut­lich war ihnen nicht entgan­gen, wie sehr sie an dem treuen alten Knecht hing.

Voller Wehmut rief ich mir unsere wöchentlichen Ein­kaufstouren ins Gedäch­nis, die wir im Auftrag der Lachauer Schürzengilde (als da sind: die Gnädig­ste, unsere charmante „Schlossherrin“, Leni, der dienstbare Schloss­geist, Tante Agnes, Katjas Oma Anita und Gudrun, eine Frau aus dem Dorf, die ab und zu in der Küche und bei der Ernte hilft) in die um­liegenden Nachbardör­fer unternommen hatten.
Wir ra­delten freihändig und wichen erst im allerletzten Mo­ment den Treckern aus, die uns entgegen­knatterten. Die Land­wirte schick­ten gepfefferte Flüche zum makellosen Himmel, saftige Ausdrücke, die Katja und mir noch nie im Leben zu Ohren gekommen waren. Aber so richtig böse waren die Bauern uns nicht; das wussten wir genau.
Für diesen Sommer hatten wir uns vorgenommen, mit den Rädern nach Lü­beck zu fahren. Ich brannte schon lange darauf, durch das Holsten­tor zu spazie­ren, das ich nur von An­sichtskarten her kannte, und Katja schien ganz scharf darauf zu sein, die Grafik­sammlung im St. Annen-Museum unter die Lupe zu nehmen. Seit zwei Jahren lag uns Tante Agnes damit in den Ohren und schwärmte in den höchsten Tönen von den niederländischen Meistern, nahm sich jedoch nie die Zeit, mit uns dort­hin zu fahren. End­lich hätten wir alleine losgedurft! Wir wollten die Nacht in einer Jugendherberge verbringen und am nächsten Morgen mit einem der Aus­flugsdampfer die Trave runterzuschippern.

Steckt das Leben nicht voller Überraschungen? Die Haus- und Gartenhexen vom Hof hatten uns seltsamerweise ihre Erlaubnis zu diesem Ausflug schon im letzten Jahr erteilt - postwendend und ohne lange herumzuschwafeln. Es keimte in uns der Ver­dacht auf, als freute sich das weibliche Gutsgeschwader geradezu un­bändig auf den nächsten Sommer, weil es uns dann fast drei Tage lang nicht zu Gesicht bekäme – als hätten uns die Blattern entstellt.

Und jetzt verschmachte ich hier, weitab vom Schuss, in einem Krankenhaus, das zu allem Über­fluss auch noch Schwachhauser Klinik heißt. Und Katja sitzt auf Lachau – ohne Knut, zwischen lauter alten Leuten. Mit einer Mutter, die sich nur für Blumen in­teressiert und extrem modesüchtig ist. Katja trägt auf dem Gut nur Hosen, wadenlang oder kurz und knapp. Mode ist ihr ebenso schnuppe wie meinem kleinen Bruder die gesund­heitsschädliche Wir­kung von Süßig­keiten auf seine Milchzähne. Er litt allerdings auch noch nie unter Zahn­schmerzen.
Wer wohl diesen verheißungsvollen, voluminösen Brief geschrie­ben hat? Leni? Katja? Oder gar Tante Agnes? – Wenigstens bliebe mir in diesem Jahr das nervige Stine-Geplapper erspart. Ein schwacher Trost! Mir war, als hätte ich Lenis Stimme vernommen, die manchmal ein wenig spöttisch klingt.

Ich wandte mich Melanie zu, die in ein Buch vertieft war und sich von den Mädchen, die laut durcheinander schwatzend auf ihren Bettkanten hockten, nicht ablenken ließ. „Was liest du da, Melanie?“, wollte ich wissen. Ich musste meine Frage drei­mal wieder­holen, bis Melanie end­lich mitbe­kam, dass sie gemeint war. Sie erinnerte mich in jenem Moment schmerzlich an Katja, die beim Schmökern ähn­lich wegzutreten pflegt und gleichermaßen entrückt auf­blickt, wenn man zu stören wagt, nachdem sie ihren Schnorchel in ein Buch getaucht hat.
„Stine“, gab meine Bett­nachbarin nach einer Weile endlich Auskunft und spähte geistesabewe­send über den Rand des offenbar spannenden Lesestoffs. Ihr Gesicht war voller Arglosigkeit. Und als ich sie fassungs­los anstarrte, ergänz­te sie unbefangen: „So heißt eine Novelle. Von Theo­dor Fontane.“

„Gut gemacht“, lobte mich Schwester Wilma (in den allerhöchsten Tönen). Ich warf die Krücken aufs Bett und sank erschöpft auf den Besucherstuhl neben meinem Nachtschrank. Reich­lich benebelt von der penetranten, nach Antiseptika müffelnden Krankenhaus­luft, die mir entgegengeschlug, kaum dass ich unsere Zim­mertür ge­öffnet hatte, starrte ich apathisch auf das Lino­leum, das vom Herumschieben der Betten durch­furcht und zerklüf­tet war wie ein Felsenriff im englischen Corn­wall. Eine halbe Stunde lang war ich durch sämtliche Flure des Hos­pitals ge­kurvt, die Kranken­gymnastin im Schlepptau, die mich am Gürtel meines labbe­rigen Bade­mantels gängelte: ein Hindernis, das sich nicht ab­schütteln ließ.

Die leidigen Krücken trommelten bei jedem Schritt, den ich auf den blanken Fliesen mühsam zurücklegte, wie ein Batail­lon Eispickel auf einem zugefro­renen See; sie hall­ten ganz ent­setzlich durch den nahezu leeren Korridor. Ich war davon peinlich berührt und felsenfest über­zeugt, sämt­liche Mittagsschläfer zu wecken, ja, womöglich noch die Ruhe jener Toten zu stören, die sich vom schwarzen Gevatter erlöst fühlten und froh darüber waren, dem irdischen Da­sein und allen Schmerzen entronnen zu sein.
Außer mir schlurften nur noch die beiden alten Damen aus dem Nachbarzim­mer im Gang umher – der Verdauung zuliebe, wie Wilma glaubte aus­plaudern zu müssen. Sie trugen altmodische, mit großflächigen Blumen gemuster­te Morgenmäntel, unter denen Tante Agnes' preußischblaues Keusch­heitsgewand zum Glück nicht negativ auffiel. Jedes Mal, wenn sich unsere Wege kreuzten, nickten mir die weißhaarigen Ladys auf­munternd zu.

Nach diesem peinlichen Ausflug, der noch um etliches öder und mühsamer war als die Wandertage im fünften Schuljahr, kamen mir die weni­gen Land­schaftsbilder, die über den Kacheln an den weiß getünch­ten Wänden hingen, dermaßen vertraut vor, dass ich sie aus dem Gedächnis detailgetreu hätte nach­zeichnen können, obwohl ich auf diesem Gebiet nun wirklich kein Genie bin.
Zu guter Letzt musste ich mit Hilfe des Geländers und nur einem Gehstock fünfzehn Treppenstufen er­klimmen und wieder hinabhüpfen. Der Aufstieg machte mir gewaltig zu schaffen. Er war anstrengender als das Trai­ning für die Bundesjugendspiele. Aber bald käme ich endlich nach Hause. Einen Roll­stuhl würde ich nicht brauchen; ich kam mit den Krücken einigermaßen zurecht.

„Hier ist dein Brief, Christinchen! Viel Spaß beim Lesen", unterbrach Wilma meine trüben Ge­danken. Ich schaute zuallererst auf den Absen­der: „Katja Kle­ve, Hof Lachau“, stand dort in altvertrauter Schrift. – Der Tag war gerettet!

„Vorlesen, vorlesen, vorlesen ...!“, bettelten die Mädchen, nachdem Wilma das Zim­mer verlassen hatte. Sie blickten mich erwartungsvoll an. Seit letzter Nacht waren sie über mein Schicksal bestens informiert. Wir hatten uns die spektakulärsten Episoden aus unserem Leben erzählt und dabei dermaßen laut gejohlt und gelacht, dass Nachtschwester Ilse ins Zimmer gedüst kam. Beim vierten Mal drohte sie damit, den Oberarzt zu holen (äußerstes Druckmittel; das höchste aller Gefühle).
„Oh, bitte, bitte!“, frohlockte die frühreife Mandelent­zündung, drapierte ihren feuerroten Seidenschal dekora­tiv um den wunden Hals und warf heißhungrige Schmachtblicke an die öde Decke des Kranken­zimmers.
„Du gehst zu weit, Iris“, schimpfte die brave Melanie. „Lasst uns jetzt end­lich schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

***
„Seid mir bitte nicht böse, Mädels“, bat ich, „aber ich möchte den Brief erst alleine sichten.“
Umständlich kraxelte ich auf die weitab vom Boden gelagerte Platt­form meines Bettes. Melanie stellte das Kopfende höher, damit ich halb­wegs bequem sitzen konnte. Dann schnitt ich das vielver­sprechende kleine Päckchen mit meiner Nagel­schere auf, zog genüsslich Briefseite um Brief­seite hervor, und begann zu lesen.

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