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bis zum Feierabend fehlten etliche Stunden, so dass wir bei seiner Rückkehr gewiss schon der Leichenstarre anheim gefallen wären, hätte der Kerl uns abgemurkst.
Eine beklemmend düstere Woche lang befürchtete ich, der Schwartenmann, wie ich den unheimlichen Tippelbruder in Gedanken getauft hatte, könne zurückkehren; aber zum Glück tauchte er nie wieder bei uns auf.
Wilma ließ sich vom feschen Fred nicht hinters Licht führen. Unbeeindruckt von dessen hämischem Gelächter, mit dem er wahrscheinlich den betuchten Lord verunsichern wollte, verteilte sie flink wie ein Eichhörnchen auf der Flucht vor dem Habicht die Briefe und Karten an ihre Schützlinge - bis auf einen einzigen, einen riesigen, unheimlich dicken, der mit braunem Packpapier umwickelt war. Sie versteckte das Bündel umständlich hinter ihrem Rücken und warf verschwörerische Blicke in meine Richtung. Mir stockte vor lauter Aufregung fast der Atem.
„Christine“, schmeichelte sie, „für dich ist auch ein Brief gekommen. Es ist fast ein kleines Päckchen. Du bekommst es erst, wenn du deine Übungen mit der Krankengymnastin gemacht hast. Wer der Absender ist, verrate ich nicht.“
Wilma lächelte vertraulich.
„Das ist eindeutig Erpressung in Tathergang mit Nötigung. Sie sind verhaftet, Schwester Wilma!“, rief Miriam, der komplizierte Armbruch und unverkennbar Tochter eines Staatsanwalts, triumphierend, als führte sie seit Stunden nichts als Rache im Schilde. Rache an Wilma, die sich vor den Augen sämtlicher Zimmergenossinnen erdreistet hatte, sie mit einem Kindergetränk zu belästigen. Die Mädchen lachten schadenfroh. Alle blickten gespannt zu Schwester Wilma hinüber. Es wurde mit einem Mal mucksmäuschenstill im Zimmer; wir konnten die beiden alten Damen nebenan schnarchen hören. Miriam kicherte leise und blickte nervös von einem zum anderen, als wollte sie herausfinden, wer von uns Mädchen auf ihrer Seite war.
„Blödsinn“, verteidigte sich Wilma mit einiger Verzögerung und unsicher klingender Stimme, was mich ziemlich amüsierte. Sie schob verlegen einen der Besucherstühle zurecht, an dessen tadelloser Haltung (aufrecht und im rechten Winkel zum Tisch) es nun wirklich nichts zu verrücken gab.
„Wenn Christine gelernt hat, sich mit den Krücken vorwärts zu bewegen und auch Treppen damit steigen kann, darf sie nach Hause. Der Gips wird nämlich erst in sechs Wochen entfernt.“
Sie nickte mir aufmunternd zu. – Ahnte Wilma, wie schwer mir die Übungen fielen? Ich musste mir einfach mehr Mühe geben. Jedenfalls empfand ich den verheißungsvollen Brief als Ansporn. Schwester Wilma hatte ihr Ziel erreicht! –
„War ja nur Spaß“, maulte Miriam kleinlaut und verschanzte sich hinter ihrem Mathebuch.
Ich dachte den ganzen Vormittag an Katja. Daran, dass Tante Agnes ihr mittlerweile beigebracht hatte, dass ich im Krankenhaus läge und in diesen Ferien nicht nach Lachau kommen könne. Daran, wie ihr jetzt wohl zumute war. – Wie hatten wir uns auf das Wiedersehen gefreut! Die letzten Ferien auf Lachau waren einfach traumhaft gewesen und wie im Fluge vergangen. Wir badeten in den Kiesteichen rund um den Lachauer Forst, sattelten Herkules und Rhabarber und flogen wie die blauen Dragoner im uralt deutschen Liedgut über Wiesen und Felder; wir machten mit unseren Rädern die Landstraßen und Nachbardörfer unsicher und düsten mit einem Affenzahn durch den Lachauer Forst, als stünde der Menschheit Rübezahls Auferstehung bevor; wir plünderten die Obstgärten und schoben unsere prallen Kirschbäuche vor uns her und die lange grüne Kastanienallee hinunter, die von der Dorfstraße abzweigt und schnurgerade zum Herrenhaus führt. Wir saßen unter dem wispernden Laubgewölbe der mächtigen Kastanienbäume, die rechts und links der Auffahrt wachsen und während der heißen Sommertage ihre kühlen Schatten in den Hof werfen. Ihre dichten Wipfel erwecken den Eindruck, als würden sie über den breiten Sandweg hinweg einander berühren, als tuschelten die dunklen Blätter miteinander - über Katja und mich und die Leute im Dorf.
Wir flüsterten nicht, Katja und ich; es gab keinen Grund zum Flüstern, dort konnte uns eh niemand hören. Wir unterhielten uns in einer ganz normalen Lautstärke, meistens über unseren grauen Alltag, der sich – bedauerlicherweise – meilenweit von Hof Lachau entfernt abspielt. Wir redeten über die Schule und das Universum, über die kleine Welt, die auf Lachau an den Futtertrögen saß und über den Himmelsfürsten, der nicht nur die Zügel der Lachauer Pferde in seiner hoffentlich gütigen Hand hielt. Wir wurden des Erzählens nicht müde und lauschten unseren Worten nach, die sich mit der heißen Luft in grauen Schwaden aus dem Staub machten und zu den Blätterdächern der Bäume emporschwebten.
Wir mästeten voller Hingabe sämtliche Schweine und Hühner des Hofes, halfen Leni in der Küche, wobei sich Katja nach spätestens zehn Minuten zu verkrümeln pflegte, weil sie keine Lust mehr hatte und lieber lesen wollte; wir alberten mit meinem kleinen Bruder Leonhard herum, bauten komplizierte Ritterburgen aus nassem Sand, mit vielen Türmen und Zinnen, mit breiten Wassergräben und instabilen Brücken, die Leo sprengen durfte, sobald der Feind bis zur Mitte vorgerückt war; wir leisteten Katjas Opa, der sich über Mittag in die schattige Laube zurückzuziehen pflegt, jeden Tag ein halbes Stündchen Gesellschaft und ärgerten uns bisweilen über das nervige Stine-Gezeter von Tante Agnes.
In jenem Sommer war Knut noch am Leben. Obgleich er nach getaner Arbeit auf dem Gut am liebsten für sich war, durften wir ihn einige Male auf seinen Abendspaziergängen durch den Lachauer Forst begleiten. Knut erkannte jeden Vogel an seinem Gesang – lange bevor er ihn zu Gesicht bekam. Er wusste mit schlafwandlerischer Sicherheit, wann alle Bäume, Sträucher und Blumen des Waldes zu blühen begannen, wo die Tiere ihre Höhlen gebaut und ihre Nester errichtet hatten und lenkte unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf die Vielfalt der Pflanzen, die im Unterholz wuchsen. Bis zu jenem Zeitpunkt waren wir auf unseren Streifzügen durch das große Waldgebiet achtlos an ihnen vorübergeradelt. Knuts ganzer Stolz galt jedoch den ältesten Bäumen im Lachauer Gehölz. Einige Kiefern zählten hundertvierzig Jahre und mehr. Er kannte sogar die lateinischen Namen der greisen Waldriesen. Ob Katja schon erfahren hatte, dass er ermordet wurde? Jedenfalls hatten meine Eltern partout nicht gewollt, dass sie von dem Verbrechen erführe. Ich durfte Knut in meinen Briefen an Katja mit keiner Silbe erwähnen. Vermutlich war ihnen nicht entgangen, wie sehr sie an dem treuen alten Knecht hing.
Voller Wehmut rief ich mir unsere wöchentlichen Einkaufstouren ins Gedächnis, die wir im Auftrag der Lachauer Schürzengilde (als da sind: die Gnädigste, unsere charmante „Schlossherrin“, Leni, der dienstbare Schlossgeist, Tante Agnes, Katjas Oma Anita und Gudrun, eine Frau aus dem Dorf, die ab und zu in der Küche und bei der Ernte hilft) in die umliegenden Nachbardörfer unternommen hatten.
Wir radelten freihändig und wichen erst im allerletzten Moment den Treckern aus, die uns entgegenknatterten. Die Landwirte schickten gepfefferte Flüche zum makellosen Himmel, saftige Ausdrücke, die Katja und mir noch nie im Leben zu Ohren gekommen waren. Aber so richtig böse waren die Bauern uns nicht; das wussten wir genau.
Für diesen Sommer hatten wir uns vorgenommen, mit den Rädern nach Lübeck zu fahren. Ich brannte schon lange darauf, durch das Holstentor zu spazieren, das ich nur von Ansichtskarten her kannte, und Katja schien ganz scharf darauf zu sein, die Grafiksammlung im St. Annen-Museum unter die Lupe zu nehmen. Seit zwei Jahren lag uns Tante Agnes damit in den Ohren und schwärmte in den höchsten Tönen von den niederländischen Meistern, nahm sich jedoch nie die Zeit, mit uns dorthin zu fahren. Endlich hätten wir alleine losgedurft! Wir wollten die Nacht in einer Jugendherberge verbringen und am nächsten Morgen mit einem der Ausflugsdampfer die Trave runterzuschippern.
Steckt das Leben nicht voller Überraschungen? Die Haus- und Gartenhexen vom Hof hatten uns seltsamerweise ihre Erlaubnis zu diesem Ausflug schon im letzten Jahr erteilt - postwendend und ohne lange herumzuschwafeln. Es keimte in uns der Verdacht auf, als freute sich das weibliche Gutsgeschwader geradezu unbändig auf den nächsten Sommer, weil es uns dann fast drei Tage lang nicht zu Gesicht bekäme – als hätten uns die Blattern entstellt.
Und jetzt verschmachte ich hier, weitab vom Schuss, in einem Krankenhaus, das zu allem Überfluss auch noch Schwachhauser Klinik heißt. Und Katja sitzt auf Lachau – ohne Knut, zwischen lauter alten Leuten. Mit einer Mutter, die sich nur für Blumen interessiert und extrem modesüchtig ist. Katja trägt auf dem Gut nur Hosen, wadenlang oder kurz und knapp. Mode ist ihr ebenso schnuppe wie meinem kleinen Bruder die gesundheitsschädliche Wirkung von Süßigkeiten auf seine Milchzähne. Er litt allerdings auch noch nie unter Zahnschmerzen.
Wer wohl diesen verheißungsvollen, voluminösen Brief geschrieben hat? Leni? Katja? Oder gar Tante Agnes? – Wenigstens bliebe mir in diesem Jahr das nervige Stine-Geplapper erspart. Ein schwacher Trost! Mir war, als hätte ich Lenis Stimme vernommen, die manchmal ein wenig spöttisch klingt.
Ich wandte mich Melanie zu, die in ein Buch vertieft war und sich von den Mädchen, die laut durcheinander schwatzend auf ihren Bettkanten hockten, nicht ablenken ließ. „Was liest du da, Melanie?“, wollte ich wissen. Ich musste meine Frage dreimal wiederholen, bis Melanie endlich mitbekam, dass sie gemeint war. Sie erinnerte mich in jenem Moment schmerzlich an Katja, die beim Schmökern ähnlich wegzutreten pflegt und gleichermaßen entrückt aufblickt, wenn man zu stören wagt, nachdem sie ihren Schnorchel in ein Buch getaucht hat.
„Stine“, gab meine Bettnachbarin nach einer Weile endlich Auskunft und spähte geistesabewesend über den Rand des offenbar spannenden Lesestoffs. Ihr Gesicht war voller Arglosigkeit. Und als ich sie fassungslos anstarrte, ergänzte sie unbefangen: „So heißt eine Novelle. Von Theodor Fontane.“
„Gut gemacht“, lobte mich Schwester Wilma (in den allerhöchsten Tönen). Ich warf die Krücken aufs Bett und sank erschöpft auf den Besucherstuhl neben meinem Nachtschrank. Reichlich benebelt von der penetranten, nach Antiseptika müffelnden Krankenhausluft, die mir entgegengeschlug, kaum dass ich unsere Zimmertür geöffnet hatte, starrte ich apathisch auf das Linoleum, das vom Herumschieben der Betten durchfurcht und zerklüftet war wie ein Felsenriff im englischen Cornwall. Eine halbe Stunde lang war ich durch sämtliche Flure des Hospitals gekurvt, die Krankengymnastin im Schlepptau, die mich am Gürtel meines labberigen Bademantels gängelte: ein Hindernis, das sich nicht abschütteln ließ.
Die leidigen Krücken trommelten bei jedem Schritt, den ich auf den blanken Fliesen mühsam zurücklegte, wie ein Bataillon Eispickel auf einem zugefrorenen See; sie hallten ganz entsetzlich durch den nahezu leeren Korridor. Ich war davon peinlich berührt und felsenfest überzeugt, sämtliche Mittagsschläfer zu wecken, ja, womöglich noch die Ruhe jener Toten zu stören, die sich vom schwarzen Gevatter erlöst fühlten und froh darüber waren, dem irdischen Dasein und allen Schmerzen entronnen zu sein.
Außer mir schlurften nur noch die beiden alten Damen aus dem Nachbarzimmer im Gang umher – der Verdauung zuliebe, wie Wilma glaubte ausplaudern zu müssen. Sie trugen altmodische, mit großflächigen Blumen gemusterte Morgenmäntel, unter denen Tante Agnes' preußischblaues Keuschheitsgewand zum Glück nicht negativ auffiel. Jedes Mal, wenn sich unsere Wege kreuzten, nickten mir die weißhaarigen Ladys aufmunternd zu.
Nach diesem peinlichen Ausflug, der noch um etliches öder und mühsamer war als die Wandertage im fünften Schuljahr, kamen mir die wenigen Landschaftsbilder, die über den Kacheln an den weiß getünchten Wänden hingen, dermaßen vertraut vor, dass ich sie aus dem Gedächnis detailgetreu hätte nachzeichnen können, obwohl ich auf diesem Gebiet nun wirklich kein Genie bin.
Zu guter Letzt musste ich mit Hilfe des Geländers und nur einem Gehstock fünfzehn Treppenstufen erklimmen und wieder hinabhüpfen. Der Aufstieg machte mir gewaltig zu schaffen. Er war anstrengender als das Training für die Bundesjugendspiele. Aber bald käme ich endlich nach Hause. Einen Rollstuhl würde ich nicht brauchen; ich kam mit den Krücken einigermaßen zurecht.
„Hier ist dein Brief, Christinchen! Viel Spaß beim Lesen", unterbrach Wilma meine trüben Gedanken. Ich schaute zuallererst auf den Absender: „Katja Kleve, Hof Lachau“, stand dort in altvertrauter Schrift. – Der Tag war gerettet!
„Vorlesen, vorlesen, vorlesen ...!“, bettelten die Mädchen, nachdem Wilma das Zimmer verlassen hatte. Sie blickten mich erwartungsvoll an. Seit letzter Nacht waren sie über mein Schicksal bestens informiert. Wir hatten uns die spektakulärsten Episoden aus unserem Leben erzählt und dabei dermaßen laut gejohlt und gelacht, dass Nachtschwester Ilse ins Zimmer gedüst kam. Beim vierten Mal drohte sie damit, den Oberarzt zu holen (äußerstes Druckmittel; das höchste aller Gefühle).
„Oh, bitte, bitte!“, frohlockte die frühreife Mandelentzündung, drapierte ihren feuerroten Seidenschal dekorativ um den wunden Hals und warf heißhungrige Schmachtblicke an die öde Decke des Krankenzimmers.
„Du gehst zu weit, Iris“, schimpfte die brave Melanie. „Lasst uns jetzt endlich schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag.“
***
„Seid mir bitte nicht böse, Mädels“, bat ich, „aber ich möchte den Brief erst alleine sichten.“
Umständlich kraxelte ich auf die weitab vom Boden gelagerte Plattform meines Bettes. Melanie stellte das Kopfende höher, damit ich halbwegs bequem sitzen konnte. Dann schnitt ich das vielversprechende kleine Päckchen mit meiner Nagelschere auf, zog genüsslich Briefseite um Briefseite hervor, und begann zu lesen.