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Er schwieg und sah vor sich hin, Stine aber
nahm seine Hand und sagte: „Wie du dich selbst
verkennst. Der Tagelöhnersohn aus eurem Dorfe, der
der mag so leben und dabei glücklich sein; nicht du. Dadurch
dass man anspruchslos sein will, ist man's noch lange nicht, und
es ist ein ander Ding, sich ein armes und einfaches Leben ausmalen
oder es wirklich führen.“
Theodor Fontane, „Stine"
Stine ...
(... weiter im Tagebuch – Christine – )
Gedankenverloren kauerte ich im Korbgeflecht des unbequemen Armsessels: eine nölige Riesenschildkröte, umhüllt von einem preußischblauen Morgenmantel, der aussah wie ein Erbstück aus der Zeit vor dem Versailler Vertrag.
Im Aufenthaltsraum war es beklemmend schwül. Mein Gipsbein baumelte über der Sitzkante wie ein Schlauch voller Wackersteine. Wie spät mochte es jetzt wohl sein ... Ich zog meinen todmüden Krötenkopf tief in mein beinhartes Haus aus Schildpatt und horchte vergeblich auf irgendein Gefühl, das sich partout nicht einstellen wollte. Mein gemächlich pulsierendes Herz fühlte sich von Minute zu Minute stiller, kälter und öder an. Fast glaubte ich, das gute Stück verloren oder irgendwo liegengelassen zu haben und argwöhnte, es erginge ihm jetzt ähnlich wie den sündhaft teuren Regenschirmen, die meine Mutter in sämtlichen Verkehrsmitteln regelmäßig zu verschlampen pflegt. – Oder war es schlichtweg zerborsten ...?, wie eine dieser aufmüpfigen Blasen im Pfannkuchenteig, die während des Backens platzen und die Masse gnadenlos auseinanderreißen?
Das könnten erste Anzeichen sein, Signale dafür, dass die Zeit gleich still steht, für immer und ewig; so ähnlich müsste es sich anfühlen, fantasierte mein bleiernes Hirn. Ich starrte forschend aus dem Fenster und hielt am makellosen Himmel vergeblich nach wandernden Wolken Ausschau, nach etwas Lebendigem, das unbeirrt seinen Fortgang nahm; aber die Großstadt-Szenerie der Morgenfrühe ruhte unter Aurorens Schlagbaum wie eine perfekte Theaterkulisse. Mir fielen die Augen zu, und es ist mir ein Rätsel, weshalb ich nicht vom Lachauer Landgut träumte; aber aus unerfindlichen Gründen schob sich mein erstes Klassenzimmer vors offen gebliebene innere Auge. Ich erkannte ganz deutlich die rotgeklinkerte Dorfschule hinter dem Elbdeich, der das ländliche Randgebiet der kleinen Stadt, in der wir damals lebten, vor den Ausmaßen der Sturmfluten schützte. Ob es die Zwergschule noch gab? Ihr altes Gemäuer war damals schon reichlich verwittert. Ich sah mich mit flatterndem Pferdeschwanz und verrutschter hellblauer Schleife über den riesigen Pausenhof traben, hinter dessen hohen Drahtzäunen die Hühner pickten und mit uns um die Wette krakeelten. Ein einziger Klassenraum beherbergte sämtliche Schüler aus vier Grundschuljahren.
Meine allererste Lehrerin, das von uns Kindern heiß geliebte Fräulein Bergenthal, die keineswegs eine zwiespältige Natur war, wie ihr Name etwa vermuten ließe, hatte uns eine harmonische Schulzeit beschert – drei wundervolle Jahre lang. Leider wurde sie uns weggeschnappt, von irgendeinem Mann, den wir nicht kannten und der ihr Herz erobert hatte. Sie vermählte sich mit ihm und zog nach Krefeld. Ich war noch Wochen danach todtraurig und mir schwante Fürchterliches – nicht zu Unrecht, wie sich wenig später herausstellte: Mit der neuen Lehrkraft pfiff ein eisiger Wind durch das alte Gemäuer, der uns Streit, Rivaliltät und schlechtere Zensuren bescherte.
Die schlaf- und gleichermaßen redebedürftige, blutjunge Nachtschwester kam aus der Notaufnahme am Ende des meilenlangen Flurs gewankt und torkelte traumwandlerisch hinter mir her, und als ich das milchige Glasportal zur Station hinter mir schließen wollte, um mich schnurstracks in mein Bettchen zu begeben und zwischen kuscheligen Kissen weiterzuträumen, packte sie mich am peinlichen Ärmel des zur Genüge erwähnten Missgriffs meiner Tante und schilderte den entsetzlichen Unfall in allen Einzelheiten, wonach mir noch um einiges elender wurde als zuvor.
„Schwöre“, verlangte sie zum Schluss, „schwöre, dass du niemandem etwas davon erzählst. Diese furchtbare Nachricht regt die Mädchen nur unnötig auf.“
Ich leierte die komplette Eidesformel samt religiöser Beteuerung herunter und dachte empört: Und was ist mit mir?
***
Allmählich wurde es unruhig im Zimmer. Meine Leidensgenossinnen hatten eingesehen, dass das Leben weiterging, mochte einem das Päckchen, das man in diesem Sommer zu tragen hatte, auch wie ein wuchtiger Klotz vorkommen. Sie rieben sich den Schlaf aus den Augen, und ganz nebenbei wurde bekannt gegeben, wie man sich das Frühstück vorstellte. Miriam gab ein exakt vier Minuten gekochtes Ei in Auftrag, was bei Wilma einen spöttischen Heiterkeitsausbruch hervorrief, und natürlich beharrte sie auf bärenstarken Kaffee ohne Milch und Zucker, was Wilma geflissentlich überhörte; denn die fröhliche Schwesternschülerin, die unter Wilmas Fuchtel das Lachen erstaunlicherweise noch nicht verlernt hatte, stellte wenige Minuten später eine Kanne mit dampfendem Kakao auf Miriams Nachttisch.
„Die reinste Schikane!“, zischte Miriam. „Weil Wilma mich nicht ausstehen kann.“
Sie stand auf und goss die „Babyplörre“ kurzerhand ins Waschbecken.
„In Afrika würden sich viele Kinder freuen, wenn sie zum Frühstück heißen Kakao bekämen“, sagte Gerlind, eine Pastorentochter, pikiert.
„Erstens befinden wir uns nicht in Afrika, Miss Nightingale, zweitens bin ich kein Kind mehr, drittens gibt es dort jede Menge Kakaobohnen, und viertens ist es dort bekanntlich dermaßen heiß, dass kalte Limonade angebrachter wäre, oder etwa nicht?“, gab Miriam schnippisch zur Antwort und weidete sich an Gerlinds verblüffter Miene.
Gerlind, deren käseweißes Gesicht noch um eine Nuance blasser geworden war, schnappte hörbar nach Luft – und schwieg. Gegen Miriams große Klappe hatte niemand eine Chance.
Der letzte Frühstückswunsch stammte von Iris, einer frühreifen Mandelentzündung, die sich mit uns kindischen (Schnarch-)Gänsen entsetzlich zu langweilen schien. Sie schmachtete nach einem heißen Guten-Morgen-Kuss vom schwarzgelockten Oberarzt, worüber sich alle außer Miriam, die verächtlich schnaubte, kaputtlachen wollten.
Ich war vermutlich die einzige, die nicht das geringste Hungergefühl verspürte. Meine Bettdecke hatte ich weit über den Kopf gezogen, um Wilma zu signalisieren, dass ich meine Ruhe haben wollte. Ich träumte mich tief in den Sommer hinein, in einen strahlend hellen Süßkirschen-Sommer auf Lachau – mit Katja, Leni und den Tieren. In dieser trügerischen Gedankenwelt kniete ich im Stroh einer der Boxen und streichelte hingebungsvoll ein neugeborenes, rosiges Ferkelchen, als offenbar Wilma (wer sonst?) mein linkes Bein ergriff und kräftig drückte. Reichen die Schmerzen im rechten nicht völlig aus?, war mein erster Gedanke.
„Finde dich endlich mit der Realität ab, Christine“, dröhnte dieses rasende Weibsbild, diese teuflische Lazarettkrähe, in mein Ohr."
Sei auf der Stelle vernünftig und setz dich auf die Bettkante. Sonst hole ich den Oberarzt.“
„Oh ja“, rief Iris begeistert.
„Alte Petze“, zischte Miriam.
„Diese