Gefährlicher Sommer (Teil 4)

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von Annelie Kelch

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Er schwieg und sah vor sich hin, Stine aber
nahm seine Hand und sagte: „Wie du dich selbst
verkennst. Der Tagelöhnersohn aus eurem Dorfe, der
der mag so leben und dabei glücklich sein; nicht du. Dadurch
dass man anspruchslos sein will, ist man's noch lange nicht, und
es ist ein ander Ding, sich ein armes und einfaches Leben ausmalen
oder es wirklich führen.“
Theodor Fontane, „Stine"

Stine ...
(... weiter im Tagebuch – Christine – )

Gedankenverloren kauerte ich im Korbgeflecht des unbe­quemen Armsessels: eine nölige Riesenschildkröte, umhüllt von einem preußischblauen Mor­genmantel, der aussah wie ein Erbstück aus der Zeit vor dem Ver­sailler Ver­trag.
Im Aufenthaltsraum war es beklemmend schwül. Mein Gips­bein baumelte über der Sitzkante wie ein Schlauch voller Wackersteine. Wie spät mochte es jetzt wohl sein ... Ich zog meinen todmüden Krötenkopf tief in mein beinhartes Haus aus Schild­patt und horchte vergeblich auf irgend­ein Gefühl, das sich partout nicht einstellen wollte. Mein gemächlich pulsierendes Herz fühlte sich von Minute zu Minute stiller, kälter und öder an. Fast glaubte ich, das gute Stück verloren oder irgendwo liegenge­lassen zu haben und arg­wöhnte, es erginge ihm jetzt ähnlich wie den sünd­haft teuren Re­genschirmen, die meine Mutter in sämtlichen Verkehrsmit­teln regelmäßig zu verschlamp­en pflegt. – Oder war es schlichtweg zerbor­sten ...?, wie eine die­ser aufmüpfigen Blasen im Pfannku­chenteig, die während des Backens platzen und die Masse gna­denlos auseinanderreißen?

Das könnten erste Anzeichen sein, Signale dafür, dass die Zeit gleich still steht, für immer und ewig; so ähnlich müsste es sich anfühlen, fantasierte mein bleiernes Hirn. Ich starrte forschend aus dem Fenster und hielt am makellosen Himmel vergeblich nach wandernden Wolken Ausschau, nach etwas Lebendi­gem, das unbeirrt seinen Fortgang nahm; aber die Groß­stadt-Szenerie der Mor­genfrühe ruhte unter Aurorens Schlagbaum wie eine per­fekte Theaterkulisse. Mir fielen die Augen zu, und es ist mir ein Rätsel, weshalb ich nicht vom Lachauer Landgut träumte; aber aus unerfindlichen Gründen schob sich mein erstes Klassenzimmer vors offen gebliebene innere Auge. Ich erkannte ganz deutlich die rotgeklin­kerte Dorfschule hinter dem Elb­deich, der das ländliche Randgebiet der kleinen Stadt, in der wir damals lebten, vor den Ausmaßen der Sturmfluten schützte. Ob es die Zwergschule noch gab? Ihr altes Gemäuer war damals schon reichlich verwittert. Ich sah mich mit flatterndem Pferde­schwanz und verrutschter hellblauer Schleife über den riesigen Pausenhof traben, hinter dessen hohen Draht­zäunen die Hühner pickten und mit uns um die Wette krakeelten. Ein einziger Klassenraum beherbergte sämtliche Schü­ler aus vier Grundschuljahren.

Meine allererste Lehrerin, das von uns Kindern heiß geliebte Fräulein Ber­genthal, die keineswegs eine zwiespältige Natur war, wie ihr Name etwa ver­muten lie­ße, hatte uns eine harmonische Schulzeit beschert – drei wundervolle Jahre lang. Leider wurde sie uns weggeschnappt, von irgendeinem Mann, den wir nicht kannten und der ihr Herz erobert hatte. Sie ver­mählte sich mit ihm und zog nach Krefeld. Ich war noch Wochen danach todtraurig und mir schwante Fürchterliches – nicht zu Unrecht, wie sich wenig später herausstellte: Mit der neuen Lehr­kraft pfiff ein eisiger Wind durch das alte Gemäuer, der uns Streit, Rivalil­tät und schlechtere Zensu­ren bescherte.

Die schlaf- und gleichermaßen redebedürftige, blutjunge Nacht­schwester kam aus der Not­aufnahme am Ende des meilenlangen Flurs gewankt und torkelte traumwandle­risch hinter mir her, und als ich das milchige Glasportal zur Station hinter mir schließen wollte, um mich schnurstracks in mein Bettchen zu bege­ben und zwischen kuscheligen Kissen wei­terzuträumen, packte sie mich am peinlichen Ärmel des zur Genü­ge erwähnten Missgriffs meiner Tante und schilderte den entsetzlichen Unfall in allen Einzelheiten, wonach mir noch um einiges elender wurde als zuvor.
„Schwöre“, verlangte sie zum Schluss, „schwöre, dass du niemandem etwas davon erzählst. Diese furchtbare Nachricht regt die Mäd­chen nur unnötig auf.“
Ich leierte die kom­plette Eides­formel samt religiöser Be­teuerung herunter und dachte empört: Und was ist mit mir?

***

Allmählich wurde es unruhig im Zimmer. Meine Leidensgenossinnen hatten eingesehen, dass das Leben weiterging, mochte einem das Päck­chen, das man in diesem Sommer zu tragen hatte, auch wie ein wuchtiger Klotz vorkommen. Sie rieben sich den Schlaf aus den Au­gen, und ganz nebenbei wurde be­kannt gegeben, wie man sich das Frühstück vor­stellte. Miriam gab ein exakt vier Minuten ge­kochtes Ei in Auftrag, was bei Wilma einen spötti­schen Heiter­keitsausbruch hervorrief, und natürlich beharrte sie auf bärenstar­ken Kaffee ohne Milch und Zucker, was Wilma geflissentlich überhörte; denn die fröhliche Schwestern­schülerin, die unter Wilmas Fuchtel das Lachen erstaunlicherweise noch nicht verlernt hatte, stellte wenige Minuten später eine Kanne mit dampfen­dem Ka­kao auf Miriams Nachttisch.
„Die reinste Schikane!“, zischte Miriam. „Weil Wilma mich nicht ausstehen kann.“
Sie stand auf und goss die „Baby­plörre“ kurzerhand ins Waschbecken.
„In Afrika würden sich viele Kinder freuen, wenn sie zum Frühstück heißen Kakao bekämen“, sagte Ger­lind, eine Pastorentochter, pikiert.
„Erstens befinden wir uns nicht in Afrika, Miss Nightingale, zweitens bin ich kein Kind mehr, drittens gibt es dort jede Menge Kakaobohnen, und viertens ist es dort bekanntlich dermaßen heiß, dass kalte Limonade angebrachter wäre, oder etwa nicht?“, gab Miriam schnippisch zur Antwort und weidete sich an Gerlinds verblüffter Miene.
Gerlind, deren käse­weißes Gesicht noch um eine Nuan­ce blasser geworden war, schnappte hör­bar nach Luft – und schwieg. Gegen Miriams große Klappe hatte niemand eine Chance.
Der letzte Frühstückswunsch stammte von Iris, einer frühreifen Man­delentzündung, die sich mit uns kindischen (Schnarch-)Gänsen ent­setzlich zu langweilen schien. Sie schmachtete nach einem heißen Gu­ten-Mor­gen-Kuss vom schwarzgelock­ten Oberarzt, worüber sich alle außer Miriam, die verächt­lich schnaubte, kaputtlachen wollten.
Ich war vermutlich die ein­zige, die nicht das ge­ringste Hungerge­fühl verspür­te. Meine Bettdecke hatte ich weit über den Kopf gezogen, um Wilma zu signa­lisieren, dass ich meine Ruhe haben wollte. Ich träumte mich tief in den Sommer hinein, in einen strahlend hellen Süß­kirschen-Sommer auf Lachau – mit Katja, Leni und den Tieren. In dieser trügerischen Gedanken­welt kniete ich im Stroh einer der Boxen und streichelte hin­gebungsvoll ein neuge­borenes, rosiges Ferkelchen, als offenbar Wilma (wer sonst?) mein linkes Bein er­griff und kräftig drückte. Reichen die Schmer­zen im rechten nicht völlig aus?, war mein erster Gedanke.
„Finde dich endlich mit der Reali­tät ab, Christine“, dröhnte dieses rasende Weibsbild, diese teuflische Lazarettkrähe, in mein Ohr."
Sei auf der Stelle ver­nünftig und setz dich auf die Bettkante. Sonst hole ich den Oberarzt.“
„Oh ja“, rief Iris begeistert.
„Alte Petze“, zischte Miriam.
„Diese

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