Gefährlicher Sommer (Teil 4) - Page 2

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von Annelie Kelch

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Be­merkung habe ich zwar gehört, deiner Krankheit wegen jedoch ignoriert, mein Fräulein. Du wärest allerdings gut beraten, mit meiner Nachsicht kein zweites Mal zu rechnen“, blaffte Wilma zurück.
„Seien sie unbe­sorgt, Schwester Wilma; ich will wirklich alles tun, was ich kann“, seufzte ich ver­zweifelt und versuch­te zum zweiten Mal an diesem Tag, meine erschöpften Glieder auf die Bett­kante zu hieven. Augen­blicklich ver­sammelten sich die Mädchen um mich herum und glaubten mich anfeuern zu müssen, als trainierte ich für einen Draht­seilakt im Zirkus. Ich wusste ein­fach nicht wohin mit dem vom Fuß bis übers Knie einge­gipsten Bein.
„Soll ich dir helfen, Christine?“, erbarmte sich meine Bettgenos­sin zur Linken, der nette entzündete Blinddarm, der sich wieder einigerma­ßen ge­sund fühlte und bald nach Hause durfte.
„Gern, Melanie“, er­widerte ich, „Reich mir bitte die Krücken.“
Melanie zog die blöden Dinger aus der Halte­rung, die am Fußende meiner Koje befestigt war, und gab sie mir in die Hände.
„Das ist lieb von dir“, bedank­te ich mich. Melanie war wirk­lich die hilfs­bereiteste Bett­nachbarin, die man sich wünschen konnte. Trotzdem ersehnte ich mir nichts heftiger, als dass Katja an meiner Schmerzfalle säße. Seit ich in die Schwach­hauser Klinik, in diese fidele Herber­ge des chronischen Leidens, einge­liefert worden war, be­herrschte mich ein ein­ziger Gedan­ke:
Wäre doch Katja hier!
Der Postbote erreichte an diesem Tag erst gegen Mittag, mit fast einer Stunde Verspätung, das Krankenhaus. Von meinem Bett aus konnte ich beobachten, wie er auf seinem Fahrrad die Schwachhauser Heerstraße hinunter und auf die Eingangshalle zugestrampelt kam. Vor dem großen Glasportal der Klinik bremste er behutsam ab und stieg vom Sattel. Die Hitze und die Last der zahl­reichen Päckchen, Briefe und Karten hatten ihm arg zugesetzt. Sein kurzes graues Haar klebte klatschnass am Kopf, und vermutlich lief ihm der Schweiß den Rücken hinunter, denn ein großer dunkler Fleck verunzierte seine sommerliche Dienstkluft. Ich stellte mir vor, mit welcher Inbrunst er an das Schwimmbad dachte, das er am Nachmittag besuchen wollte, und wie sehr er sich schon darauf freute.
„Moin, Horst!“, rief der Briefträger (dessen Ankunft wir jeden Morgen entgegenfiebern, als verteile Frank Sinatra die Post) und schwenkte einen riesigen Stapel mit Karten und Briefen. Horst Walther, der Pförtner, kam aus der Empfangsloge gelaufen und rief: „Mensch Richard, du bist ja total durchgeschwitzt. Ruh dich einen Moment aus und trink ein Glas Wasser.“
„Danke, Horst, gut gemeint, aber ich bin spät dran. Ein anderes Mal gern“, erwiderte Richard, unser Götterbote, und saß im nächsten Moment auch schon wieder auf seinem Fahrrad.
„Tschüss, Richard, bis morgen dann“, rief der Pförtner ihm nach.

Los, Horst Walther! Zurück ins Kabuff, hinter die diesige Glasscheibe! Gleich kommt Schwester Wilma angedampft, um die Post zu holen. Sie müssen die Briefe und Karten noch den Stationen zuordnen, feuerte ich Horst Walther im Geiste an. Und wahrhaftig: Es vergingen nur wenige Minuten, bis die Tür zu unserem Zimmer mit einem Mordsschwung aufgesto­ßen wurde. Wilma dach­te gar nicht daran, uns vorher zu warnen. Peng! Krach! – Voller Wut und aus Leibes­kräften protestierte der Schrank gegen die Tür und unseren Stationsbesen. Schließ­lich wurde die Delle in seiner geplagten linken Hüfte von Mal zu Mal tiefer; aber das schien dieser rabiaten Person völlig schnuppe zu sein.
Die Mäd­chen, die lautstark durcheinanderge­redet und ge­lacht hatten, ver­stummten sogleich, als habe unverhofft ein Lehrer ihr Klassen­zimmer be­treten.
Wilma grinste zufrieden und rief: „Kinder, die Post ist da! Ach übrigens, falls ihr es noch nicht bemerkt haben solltet, ihr Simulanten: Dies hier ist ein Krankenzimmer und kein Tanzschuppen.“
Sie stürzte an Miriams Nachttisch und stellte das Radio leiser, aus welchem soeben das opti­mistische Lachen des scheinbar wunschlos glücklichen Vagabunden erklungen war, den Fred Bertel­mann mimte. Offenbar hatte er versäumt, „Rasmus und der Landstreicher“ zu lesen, anderenfalls wäre er nämlich darüber im Bilde, dass der Spaß seine Grenzen hat - allein schon wegen der Vorurteile und des schlechten Rufs, den man als Tip­pelbruder bei einigen selbstgefälligen Bürgern zwar genießt, aber nicht im wahrsten Sinne des Wortes. Das Leben in freier Wildbahn ist schließlich noch um eini­ges gefährlicher als die mehr oder weniger zivi­lisierte Existenz; aber ge­gen die Überdosen Freiheitsdrang und Abenteuerlust, die jenen seltsamen Wesen durchs Blut wallen, kommen diese vermutlich nicht an.

Und dann dieser Pulk von Frauen, der dem lachenden Tippelbruder scheinbar zu Füßen liegt! Allen voran die bildschöne Tina aus Capri, die den stinkreichen Lord, den sie an­geblich liebt, einfach stehen lässt, um sich an seine, des Vagan­ten, Brust zu werfen, kaum dass ihr vermutlich glutäugiger Blick ihn erspäht hatte. Die existieren doch höchstens in seiner Phantasie. Nein, für einen echten Walz­bruder mit Quartiersnöten und Ver­sorgungsengpässen im kalten Winter nimmt die Liebe in diesem Schmachtfetzen einen unange­messen hohen Stellen­wert ein.
Dass längst nicht alle Vagabunden so liebenswert sind wie Rasmus der Land­streicher, habe ich schon vor vielen Jahren zur Kenntnis nehmen müssen. Ich erinnere den Tag und jene Stunde genau, als Mutti aus der Waschküche eilte, die sich draußen im Hof befand, und sorglos die Wohnungstür offenließ, weil sie lediglich Stärkepulver holen und sogleich wieder kehrtmachen wollte. Ich war damals erst sieben, allerhöchstens acht.
Wir hörten ihn beide nicht kommen; er stand plötzlich mitten in der Küche und bat Mutti um eine Speckschwarte. Mir war ein eisiger Schreck in die Glie­der gefahren. Nach mehrmaliger intensiver Lektüre, die sich mit Rasmus' Schicksal befasste, war ich über dessen Wesensart zwar bestens informiert; aber jener Typ, der sich in unsere Wohnung geschlichen hatte, entsprach schon rein äußerlich nicht dem Bild, das mir vor Augen schwebte, wenn ich an einen Landstreicher dachte. Das lag haupt­sächlich an seinem Blick. – Statt Speck­schwarten, die Mutti nur kauf­te, wenn es Eintopf gab, rückte sie das letzte Stück Hackbraten heraus, das vom Mittagessen übriggeblieben war. Der Frem­de bedankte sich zwar mit honig­süßer Stimmte und nannte Mutti eine gute Frau, glupschte aber dermaßen eiskalt auf uns herab, dass mir die Knie zu schlotterten began­nen. Es dauerte eine bange Weile, bis er endlich das Feld räumte: beängstigend widerstrebend und ausgesprochen zögerlich, als föchte er einen inneren Kampf mit sich aus. Offenbar war ihm nicht entgangen, dass wir uns ganz allein in den Räu­men be­fanden. Papa weilte noch auf seiner Arbeitsstelle, und

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