Ein einziger Schritt trennt Leben von Tod. Beide Beine auf den Boden gestützt sitzt sie an der Klippe, die Füße über dem Abgrund baumelnd. Ein kühler Windhauch weht durch ihr offenes Haar und hinterlässt Gänsehaut auf Armen und Beinen. Unter ihr rauscht das kalte Meer. Würde sie nun Schwung nehmen und alles loslassen, würde sie meterweit durch die Luft fliegen, fast wie ein Vogel am Himmel. Mit dem einzigen Unterschied, dass ihr Fall nur eine Richtung kennt.
Ob wohl mehr Menschen solche Gedanken haben, fragt sie sich und blickt suchend in den Himmel, als ob dort Antworten auf ihre tiefsten Fragen wären.
Sie glaubt nicht an einen Gott, wie könnte dieser auch auf so viele zahllose Kreaturen ein Auge haben, wie könnte er all die Wünsche und Nöte aller Lebewesen hören und beachten. Sie glaubt an nichts. Dunkelheit vor der Geburt, Dunkelheit nach dem Tod – und wenn kaum Achtsamkeit das Leben bestimmt, so liegt auch dort Dunkelheit. Manchmal hasst sie diese Welt, manchmal verurteilt sie den merkwürdigen Zufall ihrer Zeugung – wie konnte aus all diesen Milliarden Möglichkeiten ausgerechnet sie entstehen und niemand anderes? Oder wäre sie jede dieser Personen geworden, die hätte entstehen können?
Ihren Mut, ihr Leben provozierend rutscht sie ein kleines Stück nach vorne, weiter an den Abgrund, so dass ihre Oberschenkel schon fast zur Gänze nicht mehr auf dem steinigen Boden aufliegen. Was wäre anders, würde sie nun noch weiter rutschen? Welchen Verlust würde diese Welt schon erleiden?
Sie spürt, wie Hunger langsam in ihr aufsteigt und rutscht von der Kante zurück, um aufzuspringen. Mit einem letzten Blick fängt sie noch das rauschende Meer ein, bevor sie sich umdreht und durch das hohe Gras zurückläuft. Ihr Auto steht dort alleine am Straßenrand, vermutlich kam seitdem sie es hier parkte kein anderes vorbei. Sie liebt diesen Ort. Er ist wie eine andere Welt. Fernab von Menschen, die in ihr Bewusstsein treten können, kann sie sich hier an die Klippe setzen und sich ihrer eigentlichen Realität besinnen. Jedes Problem, so groß es ihr auch scheinen mag, wird klein im Angesicht des Momentes, der Leben von Tod trennen kann.
Manchmal, wenn sie nur noch Wut und Hass, wenn sie Verzweiflung und Sehnsucht, Kummer und Leid verspürt, dann fährt sie hier her, um sich an die Klippe zu setzen und darüber nachzudenken, wie schnell und wie leicht sie all das, was sie hat, beenden kann. Und jedes Mal erscheint es ihr absurd, dieses eine Geschenk des Lebens, das sie nun mal – sei es Zufall oder pure Gehässigkeit – erhalten hat, wegzuwerfen und es in Dunkelheit versinken zu lassen. Die Dunkelheit vor ihrer Geburt und nach ihrem Tod wird sie nicht beeinflussen können, wohl aber die Zeit, die dazwischen liegt.