Gefährlicher Sommer (Teil 28; Text 2) - Page 2

Bild von Annelie Kelch
Bibliothek

Seiten

wie ein übergewichtiges Häschen in meine Grube. Immerhin säßen wir beide im selben Boot. Das müsste selbst einem Wildschwein einleuchten. Falls nicht, würde ich mich vermutlich alsbald in jener misslichen Lage befinden, in welcher man die Erde von unten betrachten kann. Damit allerdings konnte ich mich beim besten Willen nicht anfreunden.

Nachts ist der Lachauer Forst noch viel unsympathischer als am Tag, bekräftigte ich in Gedanken meine brandneue Abneigung gegen alles, was nach einer Anhäufung von Bäumen aussah. Dazu trugen die kleinen Schreie der Tiere bei, das Fiepen der Mäuse etwa, die den Klauen und Zähnen ihrer Verfolger in letzter Sekunde entkommen oder in die Todesfalle getappt waren, extrem kurze Hilfeschreie, die schwach und schrill klangen und mir durch Mark und Bein fuhren.

Ich kämpfte vergeblich gegen eine aufsteigende Panik, starrte die schwarze Erde an und träumte von einer Bergsteigerausrüstung. Mittlerweile klopfte mein Herz dermaßen laut, dass es die tausendfachen Geräusche des Waldes übertönte. Ich hoffte, man könnte es auf Lachau hören und würde mir schnurstracks zu Hilfe eilen. Meine Schultern schmerzten, als hätte ich drei Tage und Nächte auf einem der Stühle in unserem Klassenzimmer verbracht und Mathematikaufgaben gelöst, und meine Hände fühlten sich geschwollen an. Irgendwo pfiff immer wieder in heller Todesangst eine Maus, als sei ihr ein Räuber dicht auf den Fersen. Ich atmete den muffigen, feuchtkalten Geruch der schwarzen Erde ein und dachte an das Gespräch, das ich mit Hannes über Erdlöcher geführt hatte und an meine Fassungslosigkeit darüber, dass diese Dinger als Versteck für Menschen herhalten müssen.

Natürlich dachte ich auch an dich, liebe Christine, und dass ich dir an diesem schrecklichen Tag keinen Brief hatte schreiben können. Vielleicht würde ich dir gar niemals mehr einen Brief schreiben können.

Wann würde Hannes mich endlich finden ...? Würde er mich überhaupt jemals finden? Und wenn ja, wann und in welchem Zustand? Tot oder lebendig? Würde überhaupt noch etwas von mir übrig bleiben? Schließlich war der Lachauer Forst, wenn auch nicht dermaßen riesig wie der Schwarzwald, so doch ein ausgedehntes Gehölz, darin man sich leicht verlaufen konnte. Es könnte unter Umständen Tage oder gar Wochen dauern, bis die Suchtrupps der Polizei jeden Winkel erforscht hatten.
Mit Erdlöchern kannte Hannes sich jedenfalls aus. Ich konnte nur hoffen, dass er mich in einem dieser scheußlichen Dinger vermutete. Vielleicht waren die Lachauer Dörfler bereits seit Stunden auf der Suche nach mir. Einen Moment lang verdross es mich, dass ich für dieses wichtige Vorhaben nicht gewappnet gewesen war und wieder mal meine Uhr vergessen hatte, aber gewiss hätte Helge sie mir ohnehin vom Arm gerissen.
Am ärgsten empfang ich, dass es für mich nicht die geringste Chance des Entrinnens gab. Selbst Rapunzel, käme sie denn in den Wald spaziert und ließe ihr Haar herunter, würde mich nicht retten können, weil ich mit den Fesseln nicht klettern konnte.
Das gute Kind müsste sich dazu überwinden, es abzuschneiden und um einen Baum zu wickeln, um sodann zu mir hinunterzusteigen, meine Fesseln zu lösen und danach … fantasierte ich pausenlos vor mich hin, bis mir endlich streifenfrei vor Augen stand, dass Rapunzel, wäre sie ein Mensch und keine Märchengestalt, mir etwas husten würde. Schließlich hatte sie Jahrzehnte gebraucht, um ihr Haar wachsen zu lassen. Und eine Schere hätte sie sicherlich auch nicht dabei gehabt. Welche Märchengestalt streift schon mit einer Schere durch den Wald?! Allerhöchstens Hans im Glück …
Darüber hinaus war ich weder eine böse Zauberin noch ein Königssohn, und wie um alles in der Welt gelangt man überhaupt in einen Turm, der keine einzige Tür hat; denn schließlich hatte die unbarmherzige Zauberin das arme Kind ja irgendwann dort hineingeworfen, ganz nach oben. Früher war mir dieses Rätsel gar nicht aufgefallen ...

Der leise Gesang der durch das Dunkel unsichtbar gewordenen Vögel, ihr sanftes Flügelschlagen, das Knacken und Knistern der Äste und Blätter hätte wie ein sanftes Abendlied klingen können, wäre da nicht irgendwo die Waldohreule gewesen –. Oder war es etwa ein Kauz, der so elend jammervoll vor sich hin schnarrte, vermutlich vor der Haustür seiner komfortablen Baumhöhle, die nächtliche Jagd schwänzend.

Eine bleierne Müdigkeit hatte sich mittlerweile über meine Glieder gelegt, und ich kämpfte gegen den Schlaf wie mit einem stinkwütenden, angeschlagenen Wildschwein, dem meine Grube zum Verhängnis geworden war, aber irgendwie halbherzig; denn am liebsten wäre ich in Ohnmacht gefallen. Dann bekam man wenigstens nicht mit, wer einen auffraß.

„In der Lüneburger Heide, in dem wunderschönen Wald, ging ich aus und ging ich unter ...“ Diese Melodie raste mir dämlicherweise seit einigen Minuten durch den Kopf, wieder und wieder, als beherbergte mein Gehirn eine alte Schallplatte mit enormen Kratzern. Aufdringlicher als ein Bumerang, dachte ich verzweifelt und fragte mich, wann der Lachauer Forst gänzlich zur Ruhe käme und ob überhaupt jemals. Nichts fürchtete ich nämlich mehr als gänzliche Stille, obwohl die Geräusche mir keineswegs geheuer waren.

Vielleicht käme Helge ja in der Morgenfrühe zurück, hockte sich an den Rand der Grube und fragte mit hämischer Stimme: „Ziege, bist du satt? Und hast du endlich die Nase voll vom Sherlock-Holmes-Spiel?“
Und ich würde, halb irrsinnig vor Durst, Hunger und Angst, antworten: „Wovon sollt ich satt sein? Ich saß doch nur im Erdlöchlein, sprang weder über Gräbelein noch fand ich ein feins Blättelein, mähähä, mäh!“

Weshalb hatte ich mich nicht Kommissar Fuchs anvertraut – als es noch nicht zu spät dafür war ... Wer würde der armen kranken Christine den täglichen Rapport liefern ...? Hoffentlich macht sie sich keine Sorgen, wenn der gewohnte Brief ausbleibt ...

Mir standen bereits die reißerischen Schlagzeilen der Morgenblätter vor Augen, wie sie denn lauten würden eines schrecklichen Tages, sofern man mich je finden würde: „Skelett im Lachauer Forst entdeckt. – Mutterseelenallein und verloren inmitten in der flüsternden Nacht des Lachauer Forstes. – Verhungertes Mädchen aus Erdloch geborgen. – Der Tod nahte in Gestalt eines Ebers. – Junges Mädchen in einer tiefen Grube von wilden Tieren zerrissen! – Kidnapping auf dem Lande! – Grausiger Fund im Lachauer Forst! – Knochen und Haare: Was von einer übrig blieb, die auszog, das Fürchten zu lernen (wie gemein!), Vermisst! Teenager kehrt von einem verhängnisvollen Waldausflug nicht zurück!“

Ich mochte gar nicht daran denken, wie weit meine Verwesung bereits fortgeschritten wäre, falls man mich irgendwann entdeckte, ob man mich dann überhaupt noch würde identifizieren können?! Ein Glück, dass ich weder meine Armbanduhr umgebunden noch meinen Ring angesteckt hatte. Ich wollte gar nicht identifiziert werden. Die schnöden Überreste meiner Leiche könnte ich niemandem zumuten, am allerwenigsten Leni und Mutti.

Die geisterhafte Schwärze dieser albtraumartigen Nacht umgab mich wie ein viel zu enges Totengewand. Ich holte tief Luft, aber die Dunkelheit legte sich wie ein Panzer um meine Brust. Von Schreckensbildern gemartert, lauschte ich auf das Rauschen der Blätter, starrte demütig in das geisterhafte Dunkel, zerbrach mir den Kopf und starb fast vor lauter Panik.
Bis auf eine grenzenlose Furcht fühlte ich nämlich nichts mehr, absolut gar nichts. Die tiefe Angst, die von mir Besitz ergriffen hatte, verdrängte jedes andere Gefühl. Ich wusste nur noch, dass ich unter gar keinen Umständen auf diese Art und Weise sterben wollte.

Obgleich in der Ferne ein Käuzchen schrie, ein paar Hirsche knörten, eine Bache zufrieden grunzte (hoffentlich meilenweit vom Erdloch entfernt) und aus dem tückischen Dickicht der knarzende Ruf einer Eule zu mir herüberdrang, ein schauerliches Gekreische, das gespenstisch in den Fichten widerhallten, die das Erdloch umsäumten, vernahm ich plötzlich ein gleichmäßiges Geräusch, das meinem Grab näher und näher kam, näher und näher – ein leichtes Getrappel, das ein Knistern im Unterholz verursachte, als tastete sich jemand zum Erdloch vor. Hoffentlich ist es nur ein Tier, dachte ich. Die kommen wenigstens gleich zur Sache, machen kurzen Prozeß, und quälen ihre Opfer nicht lang und breit, bevor sie sie töten.
Wie es sich wohl anfühlt, bei lebendigem Leibe gefressen zu werden? Ich wünschte mir, klaftertief unter der Erde zu liegen. Wenigstens für eine Weile, bis die Gefahr vorüber war.

Mir kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Ein kühler Nachtwind strich über meine Gruft, und trotz aller Angst verspürte ich ein nagendes Hungergefühl, das meinen Magen schmerzhaft zusammenzog. Derweil rollte, wie Mephisto in der Nacht, immer wieder eine riesige Schlafwoge auf mich zu – mit der gütigen Absicht, mich voll und ganz zu überwältigen.

Wenn ich nur gewusst hätte, was dort im nahen Unterholz unentwegt umherraschelte. Da! – Mit einem Mal blitzte das Licht einer Taschenlampe auf. Der grelle Schein tastete sich durch die Finsternis und tanzte wie ein Irrlicht hin und her. Ich fuhr erschrocken zusammen und duckte mich reflexartig an den Rand meines offenen Grabs.

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, als ein diffuser Lichtschein in Form einer Ellipse langsam über die Grube glitt und gespenstisch die Zweige der hohen Bäume erhellte. Meine ängstlichen Augen verfolgten die Mätzchen des zitternden gelben Lichtkegel, mein Puls raste vor Panik, und ich begann heftig zu zittern. – War Helge zurückgekehrt – um mich endgültig „aus dem Verkehr zu ziehen"?

Der flackernde Strahlenkegel fuhr zwischen den Bäumen auf und nieder. Hirsch mit Laterne am Geweih, hätte Hannes gewitzelt. Dieser Gag war das Einzige, was mir im ersten Moment dazu einfiel.
Ich blinzelte in den intensiven gelben Lichtstrahl, der jäh mein Gesicht streifte.
„Verdammt, das blendet mich total!“, schrie ich voller Wut.
Die Taschenlampe erlosch wie auf Kommando, und der bleiche Mond förderte einen hohen Schatten zutage, beziehungsweise zunacht, der sich am Rand des Erdlochs bewegte. Das konnte unmöglich ein Tier mit Taschenlampe sein.

„Katja?“, dröhnte plötzlich eine männliche Stimme, die ich niemandem zuordnen konnte, zu mir hinunter. „Macheath'“ Stimme war es jedenfalls nicht.
„Jaaa...“, gab ich mich zu erkennen. Meine Stimme klang leise, fast tonlos, und zitterte und bebte wie Espenlaub vor lauter Angst.

„Ich hab sie gefunden. – Endlich ...!“, drang die lieblichste Stimme, die ich je in meinem Leben gehört hatte, an mein verzücktes Ohr.

Seiten

Interne Verweise

Kommentare

03. Feb 2018

Die Mischung passt gut, nach wie vor:
Die Spannung trifft gern auf Humor!

LG Axel

03. Feb 2018

Wenn jemand trotzdem lacht ... das ist Humor,
doch Katja kommt sich schon begraben vor.
Dank, Axel, dir, für Deinen Kommentar:
Er ist, wie immer, unfehlbar.

LG Annelie

04. Feb 2018

Zum Glück geht dieser besonders gruselige Teil deines spannenden Jugendkrimis gut aus ... auch das Gedicht von Peter Huchel gefällt mir sehr, liebe Annelie.
Liebe Grüße nach Lübeck - Marie

04. Feb 2018

Danke, liebe Marie. Ja, Peter Huchel war ein großer Dichter, einer der bedeutendsten Lyriker seiner Zeit. Er wuchs auf dem Bauernhof seines Großvaters in der Mark Brandenburg auf. Hier ein Winterpsalm von ihm, weil es grad jahreszeitlich passt:

Atmet noch schwach,
durch die Kehle des Schilfrohrs,
der vereiste Fluss ...

oder, sommermäßig:

Eine Granne,
nicht zugeweht vom Sommer,
stachelt sich fest
in meiner Kehle.

Liebe Sonntagsgrüße zu Dir in die riesige Stadt,
Annelie

04. Feb 2018

Schöne Huchelverse, danke, und die Stadt ist von überschauberer Größe ...

Liebe Grüße zurück - Marie

04. Feb 2018

Echt jetzt? - Wie Hamburg - zumindest auf dem Stadtplan? - Nicht größer? Nicht antworten - ausruhen; ich schau selber nach - im Atlas und Lexikon.

LG Annelie

Seiten