Warum ist Meerwasser salzig?

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Sind Märchen und Geschichten erfunden worden, weil man für manche Vorgänge keine Erklärung zur Hand hat? Oder sind die einfachsten Dinge oft doch zu kompliziert, um sie mit ein paar Worten zu erklären?

„Papaa!“ Kam der kleine Junge von nebenan aufgeregt angerannt und platschte sich, nass wie er war, zwischen seine Eltern in den Strandkorb: „Papa, warum ist das Wasser im Meer salzig?“
Ich vernahm nur ein lautes Stöhnen des Vaters, dann setzte die Mutter des strohblonden Timmy zu einer Erklärung an: „Also - ganz tief unten im Meer, da gibt es eine Mühle und die mahlt Tag und Nacht Salz. Deshalb ist das Meerwasser salzig.“
„Auwei!“ Sprang der Kleine auf, kramte aufgeregt in der Badetasche: „Wo ist meine Tauchermaske? Die geh’ ich jetzt suchen!“
„Die ist weit, weit draußen im Meer. Die findest du hier nicht, Timmy“, schob sein Vater noch nach, um den quirligen Kleinen von zu großem Tatendrang abzuhalten.

„Wie kann man seinen Kindern so einen Mist erzählen“, wandte ich mich flüsternd an meine Frau.
„Warum Mist? Kinder mögen Geschichten und Märchen“, tat sie lapidar ab, während sie sich weiter sonnte. Nach einigen Minuten nahm sie die Sonnenbrille ab und wandte sich zu mir: „Weißt Du vielleicht, warum Meerwasser salzig ist?“
„Ich? Äh, - nein.“
„Also, dann ist diese Geschichte immer noch besser als gar keine. Nicht?“ Sprach’s und drehte sich wieder lässig der Sonne entgegen.
Mit derartig provokativen, aber logischen Schlussfolgerungen war meine Frau unschlagbar. Hin und wieder brachte sie mich damit dermaßen in Rage, dass ich mich im Laufe unseres gemeinsamen Lebens im Geiste schon mehrfach vor dem Scheidungsrichter sah.
„Verflixt, warum ist denn nun dieses Wasser salzig?“, ging es mir ständig durch den Kopf. Mir ließ die Frage keine Ruhe, deshalb suchte ich einen Vorwand, um vom Strand wegzukommen. Vielleicht konnte mir die Dame im Fremdenverkehrsbüro die Frage beantworten.
„Du Conny, ich gehe einen Kaffee trinken. Kommst du mit?“
Während ich mein Portemonnaie einpackte und in die Schuhe schlüpfte, briet sie weiter regungslos in der Sonne. Zwischen ihren leicht geöffneten Lippen kam nur ein „Nein“ hervor.

Ich marschierte geradewegs zum Fremdenverkehrsbüro, stellte mich am Tresen geduldig hinter zwei Auskunft suchende Urlauber.
„Guten Tag, Sie wünschen bitte?“ Sprach mich die junge Frau freundlich an.
„Sagen Sie, ich habe da eine ganz banale Frage: Warum ist das Meerwasser salzig?“
„Oh!“ Lächelte sie verlegen. „Das weiß ich nicht. Aber, als ich ein kleines Kind war, hat mir meine Mutter immer etwas von einer Mühle im Meer erzählt.“
Mein enttäuschter Gesichtsausdruck veranlasste sie wohl, noch hinzuzufügen: „Das ist jedoch nur ein Märchen.“
„Wer kann mir denn die Frage beantworten?“ Insistierte ich.
„Entweder jemand bei der Stadtverwaltung oder - noch besser, da gibt es verschiedene Institute in Hamburg, Bremen, überhaupt an der Küste. Die wissen das bestimmt“. Sie zog einige Telefonbücher hervor und wir suchten gemeinsam Institute, in deren Firmierung das Wort Meer oder Meeresforschung vorkam.
Mit drei Anschriften und deren Telefonnummern, zog ich mich in unser Ferienapartment zurück. Mein erster Anruf galt der Deutschen Gesellschaft für Meeresforschung in Hamburg, denn Meeresforscher müssten doch wissen, warum Meerwasser salzig ist. Schließlich haben sie den ganzen Tag damit zu tun.
Eine freundliche Dame dieser Gesellschaft machte mich darauf aufmerksam, dass es vor ungefähr zehn Jahren einen Roman mit dem Titel „Woher kommt das Salz im Meer“ gab. Aber ihres Wissens nach wurde das Salz im Meer durch einen globalen Wasserkreislauf im Laufe von Jahrmillionen durch Flüsse ins Meer gespült.
„Aber das Flusswasser, das ins Meer läuft, ist doch nicht salzig?“ Kam prompt mein Einwand.
„Geringfügig salzig. Im Laufe von Millionen von Jahren akkumuliert sich das. Warten Sie, ich muss meinen Kollegen fragen“, hielt sie etwas verunsichert dagegen.
Im Hintergrund unterhielt sie sich. Plötzlich, wieder ins Telefon gerichtet: „ Aah! Jetzt, mein Kollege sagt nein. Das ist anders. Er sagt, das wird nicht salziger. Das soll entstanden sein bei der Urbildung der Ozeane und Kontinente.“
Nach einer kleinen Denkpause fuhr sie fort: „Aber ich überlege, wen ich ihnen geben kann, der da Bescheid weiß. Ein Meereschemiker vielleicht? Der Doktor Müller vom Amt für Schifffahrt und Hydrographie, hier in Hamburg, der könnte Ihnen vielleicht weiterhelfen. Die Telefonnummer lautet ...“.

„Wenn die in der Gesellschaft für Meeresforschung sich in dieser Frage nicht einig sind, dann ist es wohl ratsam, diesen Doktor Müller vom Amt anzurufen, denn in deutschen Amtsstuben geht es dienstsiegelhalterhaft amtlich zu. Schließlich beweisen deutsche Behörden täglich ihr korrektes Verhalten beim Umgang mit Steuergeldern und eine amtlich beglaubigte Auskunft gilt immer noch etwas in unserem Land“, dachte ich, während ich die erhaltene Nummer wählte.
„Bundesverkehrsbehörden“, meldete sich die Telefonistin.
„Ich hätte gern Herrn Doktor Müller.“
„Welchen? Ich habe hier nämlich mehrere“, hakte sie nach.
„Die Deutsche Gesellschaft für Meeresforschung hat mir die Telefonnummer gegeben.“
„Ahh, Meereskunde. Den Versuch ich mal, ja?“
Bevor ich antworten konnte, schnarrte es bereits wieder im Hörer.
„Der von der Meereskunde meldet sich nicht. Ich versuche da mal jemanden in der Abteilung.“
„Hansen“, meldete sich der Angewählte.
„Guten Tag, Herr Hansen. Ich rufe auf Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Meeresforschung an und hätte da eine grundsätzliche Frage: Warum ist das Meerwasser salzig? Leider konnten die von der Gesellschaft für Meeresforschung mir keine eindeutige Antwort darauf geben und empfahlen mir, mich an Sie zu wenden“, führte ich mein Begehren aus.
Durch den Hörer vernahm ich verlegenes Räuspern, dann Lachen, gefolgt von der Antwort des Herrn Hansen: „Ich lache ein bisschen. Die Frage wird alle drei Tage gestellt - im Prinzip. Dazu habe ich auch schon einmal ein paar Zeilen aufgeschrieben.“
„Phantastisch. Wenn die Frage alle drei Tage gestellt wird, dann steht der Erklärung nichts mehr im Wege“, nahm ich an. Doch nicht bei pflichtbewussten, deutschen Beamten. Sofort kam eine Gegenfrage, um sein geheimes Fachwissen nicht preisgeben zu müssen.
„Wofür wollen Sie es denn und wer sind Sie?“
Ich erklärte ihm nochmals mein Anliegen und wer ich bin, außerdem verband ich es mit dem Hinweis, dass mir bis jetzt niemand eindeutig erklären konnte, warum das Meerwasser salzig ist.
„Ja, ja. Die Frage ist berechtigt. So eindeutig lässt sie sich nicht beantworten. Da gibt es diverse Theorien“, führte er weiter aus und bat mich, meine Frage doch per Fax einzureichen, damit er genau wüßte, mit wem er es zu tun habe.
„Dann versuchen wir, Ihnen die Antworten zu geben“, schob er noch vor, während er mir seine Faxnummer gab.
Ich wollte keinen größeren Verwaltungsakt mit meiner einfachen und bescheidenen Frage provozieren, deshalb hakte ich nochmals nach: „Sie können mir das nicht so kurz - geschwind ...?“
„Nee!“ Unterbrach er mich. „Da gibt es Theorien, die muß man diskutieren, da muß man auch die ganzen Elemente ... - und da ich gerade Besuch habe, würde ich Ihnen das lieber per Fax schicken“, würgte er mich mit meinem Ansinnen kurzerhand ab und verabschiedete sich.
Vollkommen frustriert saß ich neben dem Telefon. „Verdammt, der macht ein Staatsgeheimnis aus Meerwasser. Jetzt muss der auch noch Theorien diskutieren. Vielleicht ruft der eine große Regierungsbeamten-Konferenz ein und die beraten tagelang meine Faxanfrage, auf der schließlich nur steht: Warum ist Meerwasser salzig? Was das kostet, wo die Staatsverschuldung doch sowieso schon so immens ist“, ging es mir durch den Kopf und ich nahm von meiner Faxanfrage Abstand. Doch das Gefühl, dass Herr Hansen es wahrscheinlich auch nicht wusste, vielleicht sogar auch noch an die Mühle glaubt, wurde ich nicht los.

So leicht wollte ich nicht aufgeben, deshalb griff ich wieder zum Hörer und rief die Deutsche Wissenschaftliche Kommission für Meeresforschung in Hamburg an, um die alte, neue Frage zu stellen: Warum ist das Meerwasser salzig? Der nette Herr verwies zuerst auf das Buch: „Meeresforschung“ von Tait, erschienen im Thieme Verlag. Doch in einer eher spärlich eingerichteten Ferienwohnung gehört dieses Werk wohl nicht gerade zur Standardausstattung, auch nicht an der Nordsee. Deshalb bedrängte ich ihn weiter um eine telefonische Auskunft. Schließlich erfuhr ich, dass bei der Kommission für Meeresforschung das Meerwasser zu Ende der Eiszeit über Salzgestein geflossen und auf diese Art salzig geworden ist. Heute süßt es durch Zuflüsse bei der Kommission eher aus und wird durch Verdunstungseffekte wieder salziger - das Meerwasser, natürlich!

Diese Erklärung hätte mir als Urlauber genügen können, doch schließlich hatte ich auf meinem Zettel noch eine Telefonnummer. Um die letzten Zweifel zu zerstreuen, griff ich abermals zum Hörer. Mein nächster Ansprechpartner kam vom Institut für Meereskunde an der Universität Kiel. Auf meine Frage: „Warum ist das Meerwasser salzig“, vernahm ich am anderen Ende der Leitung ein langgezogenes „Ouhh! Das ist eine schöne Frage.“
Und dann tauchten wir wieder ein, in die Urgeschichte der Erde und der Meere. Mein Gegenüber stellte fest, dass es Wasser wahrscheinlich schon immer gegeben habe. Durch Einwaschungen der Niederschläge aus der Atmosphäre und vom festen Land sei der Salzgehalt entstanden, oder im Urmeer war vielleicht auch schon etwas drin. Das sei jedoch eine offene Frage. Der Salzgehalt habe sich seit Millionen von Jahren nicht verändert, denn es gibt Arten, die leben heute noch und deshalb kann sich der Salzgehalt nicht verändert haben.
Mir als Landratte drängte sich hier sofort die Assoziation „Salzhering“ auf, doch solche habe ich bis heute in unseren süddeutschen Breitengraden leider nur in totem Zustand zu Gesicht bekommen. Abschließend verwies mein Gesprächspartner dann noch auf einschlägige Fachliteratur mit dem Satz: „Näheres steht dann in den Büchern drin“.

Nach der Konsultation so vieler Experten war ich ziemlich überrascht, dass Fachleute, die täglich mit Meer und Meerwasser zu tun haben, noch nicht einmal genau wussten, warum das Meerwasser salzig ist. Teilweise freute es mich, dass wir Deutsche, die wir doch zur Norm- und Nivellierungssucht neigen, für diese grundsätzliche Frage noch keine einheitliche, bundesweite Meerwasser-Entstehungsverordnung haben. Aber was wir nicht schaffen, das schafft Brüssel in den nächsten Jahren bestimmt.
Oder vielleicht sollte ich Herrn Hansen vom Amt für Schifffahrt und Hydrographie doch eine Faxanfrage stellen? Natürlich nur, um diese behördliche Rechtsunsicherheit ein für alle mal durch die angedrohte Grundsatzdiskussion der verschiedenen Theorien auszuräumen.“ Fragte ich mich und schloss die Appartementtür ab, um wieder an den Strand zu gehen.
Als ich nachdenklich zu unserem Strandkorb kam, war meine Frau gerade am Zusammenpacken. Sie kannte mich und meine Gewohnheiten nur zu gut, deshalb kam es wie aus der Pistole geschossen: „Na, weißt du jetzt, warum das Meerwasser salzig ist?“
„Selbstverständlich. Schau, da gibt es eine Mühle ganz tief unten im Meer und die mahlt Tag und Nacht Salz. Deshalb ist das Meerwasser salzig.“

Die Namen wurden geändert. Eine eventuelle Namensidentität ist rein zufällig.
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© Copyright 1999 by Carlos Wolf

Veröffentlicht / Quelle: 
E-Book ISBN 9783848203079