Abenddämmerung

Bild zeigt Heinrich Heine
von Heinrich Heine

Am blassen Meeresstrande
Saß ich gedankenbekümmert und einsam.
Die Sonne neigte sich tiefer, und warf
Glührote Streifen auf das Wasser,
Und die weißen, weiten Wellen,
Von der Flut gedrängt,
Schäumten und rauschten näher und näher -
Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen,
Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen,
Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen -
Mir war, als hört ich verschollne Sagen,
Uralte, liebliche Märchen,
Die ich einst, als Knabe,
Von Nachbarskindern vernahm,
Wenn wir am Sommerabend,
Auf den Treppensteinen der Haustür,
Zum stillen Erzählen niederkauerten,
Mit kleinen horchenden Herzen
Und neugierklugen Augen; -
Während die großen Mädchen,
Neben duftenden Blumentöpfen,
Gegenüber am Fenster saßen,
Rosengesichter,
Lächelnd und mondbeglänzt.

»Abenddämmerung« von Heinrich Heine behandelt das Motiv der Natur, die Zusammengehörigkeit der Empfindung des lyrischen Ichs und der Natur und bedient sich einer Vielzahl an sprachlichen Mitteln. Es weist dabei zahlreiche Merkmale der Romantik auf, in die es zeitlich auch einzuordnen ist.

Veröffentlicht / Quelle: 
Buch der Lieder, Die Nordsee, Erster Cyklus, S. 311–312; Hoffmann und Campe 1827
Gedichtform: 
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