Ich schätze sie sehr, diese wunderbar aufrichtigen Gespräche mit meiner lieben Freundin Mechthild. Das sind wärmende Gespräche. Sehr privat. Sehr persönlich. Tiefgründig und ehrlich. Solche Gespräche sind wie eine großartige, dicke, warme Suppe nach einem dieser überlangen Herbstspaziergänge, bei denen einem die naßfeuchte Kälte tief in die Knochen gekrochen ist. Man sitzt danach ein wenig steif und muskelkatrig mit roten Wangen am Küchentisch über dem dampfenden Teller, hat den Löffel schon in der Hand und schaut aus dem Fenster. Es dämmert früh und der Nebel hat sich draußen erfolgreich eingerichtet. Mühsam senden die müden Straßenlaternen ein paar kraftlose Lichtstreifen. Der Nebel lässt sich nicht mehr vertreiben. Draußen nicht und nicht aus dem Sinn. Schlimm und schön zugleich. Das Jahr verliert an Kraft. Es wird müde. Spürbar. Die Melancholie wirkt langsam, sie ist ein süßes Gift. Ja, das Bild trifft es gut.
Ich versuche für meine Freundin Rilkes „Herbsttag“ zu zitieren. Leider schaffe ich nur die dritte Strophe auswendig und einigermaßen fehlerfrei. Den Rest muss ich nachschlagen. Was mir nicht wirklich schwerfällt. Ich mag Rilke. Seine Gedichte sind besonders. Abgenutzt ist da gar nichts, wie viele spotten. Sie nehmen mich mit. Immer.
„Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“
„Der Herbsttag“ stammt aus dem Herbst des Jahres 1902. Rilke hat das Gedicht in Paris geschrieben. Er hatte eine schwere Zeit. Getrennt von Frau und Kind. Rilke war kein Mensch für ein bürgerliches und ortsgebundenes Familienleben. Er hat gelitten. Denn auch für das Alleinsein war er nicht gemacht. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie er durch das herbstliche Paris gestreunt ist. Getrieben. Einsam. Und das nicht nur in der fremden Kapitale.
Eine gute Suppe ist ein Teller liebevolle Fürsorge. So ist auch unser regelmäßiger Austausch. Die Themen, die uns beschäftigen. Mal den einen und mal den anderen und oft auch alle beide. Intensiv sind sie immer. Wir drehen und wenden sie. Heben sie an und schauen darunter. Leuchten sie aus. Rufen in sie hinein und lauschen dem Echo. Wir wollen ihnen auf den Grund gehen. Das gelingt nicht immer. Heute beschäftigt uns die Nähe. Mechthild hält es mit dem Aphoristiker Rüdiger Keßler. Der meint, dass „Nähe vor allem schmerzt, wenn sie fehlt!“ Dem stelle ich einen Ernst Ferstl zur Seite: „… ohne Nähe bleibt die Liebe eine Fremdsprache.“ Pause. Passt beides und passt zusammen.
Wer jemals allein und ungemütlich in der Fremde unterwegs war, in der niemand eine Sprache spricht oder versteht, der man auch nur ansatzweise mächtig ist erahnt, was Ferstl da sagen will. Ich habe einige solcher Länder besucht. Ich glaube, Rilke ein bißchen nachfühlen zu können …
@ 2. November 2014 Bruno Schulz