Gefährlicher Sommer (Teil 26; Text 3) - Page 2

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von Annelie Kelch

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annehmen, du hättest den Verstand verloren.
Ich verstehe dich nicht (als ob sie das jemals getan hätte)!“
Blamieren? Ich stutzte. Mein Herz schlug bei dieser ungerechten Bemerkung wie ein aus dem Takt geratenes Uhrwerk.
Und was ist mit Muttis extraordinären Gewändern? Danach zu urteilen, müsste ich mich ja ständig blamiert fühlen, wollte ich erwidern, aber Omas eiskalter Blick ließ mir den Zungenbelag im Mund gefrieren, und ich vergaß sekundenlang zu atmen. Ihre Humorlosigkeit kannte offenbar keine Grenzen.
„Wenn Mathilde nicht geschlachtet worden wäre, hätte ich ja auch in meinem Zimmer übernachtet. Ganz sicher. Dann wäre das alles gar nicht passiert“, verteidigte ich mich schließlich mit kläglicher Stimme.
„Mathilde?“, fragte Oma verständnislos und zog beide Augenbrauen in die Höhe, was außergewöhnlich war, weil meistens nur die rechte in Funktion tritt, liebe Christine.
„Hier auf dem Gut werden ab und an Kühe, Schweine und Kleinvieh geschlachtet, aber keine Frauen, die Mathilde oder sonstwie heißen.“
„A-a-a-aber Mathildchen war doch ein Schwein“, stammelte ich und spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Oma wusste noch nicht mal über die wichtigsten Tiere auf dem Hof Bescheid. Selbst deiner Tante war Mathilde ein Begriff; sie kannte die Sau sogar persönlich und nicht nur vom Hörensagen, liebe Christine. Jeder hier kannte Mathilde. Nur Oma Anita nicht.
Opa räusperte sich und sagte mit leisem Vorwurf in der Stimme: „Aber Anita. Die Mathilde musst du doch gekannt haben. Das war doch diese aparte Normand-Sau, die ich dir neulich auf dem Hof gezeigt habe, als Leni sie saubergespritzt hat.“
„Genau, Opa“, ergänzte ich. „Ich wollte doch nur sehen, ob die anderen Tiere sie schon vermissen und ob es ihnen gut geht.“
„Aber du hättest dich doch wenigstens bemerkbar machen können, als Axel den Riegel vor den Stall schob. Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen“, grummelte Oma.
„Das habe ich gar nicht richtig mitbekommen. Ich war so sehr in meine Gedanken vertieft“, verteidigte ich mich. Schließlich hatte sich Helge in meinem Zimmer verschanzt, offenbar, um mich zum Schweigen zu bringen, für alle Ewigkeiten.
„Na, dann frühstücke erst mal; du wirst Hunger haben nach dieser ungemütlichen Nacht“, zeigte sich Oma sich endlich versöhnlich.

„Ach, Oma, ich ...“ … habe bereits bei Leni gegessen, wollte ich sagen, aber Muttis frostiger Blick ließ mich verstummen, und obwohl ich satt war wie ein gemästetes Huhn, Leni hatte mir noch einen riesigen Teller mit Stachelbeergrütze spendiert, aß ich zwei Stückchen Rhabarberkuchen, den Oma gestern gebacken hatte.
Danach ging es mir grottenschlecht.
Ich schnappte mir ein Buch aus Opas Regal und zog mich in die kühle Veranda zurück.
Kaum dass ich mich in das erste Kapitel vertieft hatte, drang Hannes' aufgeregte, ungewöhnlich schrille Stimme durch die Verandatür, die einen winzigen Spalt geöffnet stand. Verwundert klappte ich das Buch zu, stand auf und blickte durch die Fensterfront auf den Hof, über dem die Weißglut der Augustsonne brannte. Leni schleppte gerade eine Schüssel mit Gemüseabfällen zum Hühnerstall und schaute weder nach rechts noch nach links. Ich ließ meinen Blick über den Hof schweifen, bis ich Hannes, Kröger und Heiner vor den Pferdeställen entdeckte. Hannes redete wie besessen auf die beiden Männer ein und gestikulierte wild mit den Armen. In seiner linken Hand hielt er eine blaue Arbeitsjacke, die er hin- und herschwenkte, um sie seinem Vater immer wieder unter die Nase zu halten. Diesen Eindruck jedenfalls machte sein Verhalten auf mich aus der nicht gerade geringen Distanz. Außerdem hatte ich Schwierigkeiten, hinter dieser Plänkelei einen Sinn zu entdecken.
Kröger nickte einige Male unwillig und versuchte offenbar, seinen aufgebrachten Sohn zu beruhigen, während Heiner scheinbar gelangweilt danebenstand und auf einem Halm herumkaute. Ich wollte mich gerade in Bewegung setzen, um zu erfahren, was Hannes dermaßen in Rage versetzt hatte, als das Trio sich aufmachte und den Weg ins Dorf einschlug, jedoch keinesfalls wie üblich über die Kastanienallee, sondern den ausgetretenen Pfad zwischen Park und Ententeich entlang, der unter anderem auch zu Tante Selmas Haus führte. Hannes rannte voraus, während Kröger und Heiner im Laufschritt folgten. Mich beschlich ein unangenehmes Gefühl, genauer gesagt, wurde mir derart mulmig, als wankte ich ohne Balance auf einer zwanzig Meter hohen Klippe über dem Meer. Ein Gedanke, für den ich mich augenblicklich schämte, weil er sich anfühlte, als sei er einem Schundroman mit frevelhaftem Hintergrund entsprungen, jagte durch meinen Kopf: „Wen hat es diesmal erwischt?!“

„Katja, welche Buchstabensuppe schlingst du jetzt schon wieder in dich hinein?“, fragte Leni und hielt sich die leere Schüssel vor den rundlichen Bauch.
„Ich esse nicht, Leni“, sagte ich lächelnd, „siehst du denn nicht, dass ich gerade ein Alphabet-Gerüst erklimme, das mich in wenigen Stunden auf den höchsten Gipfel tragen wird?“
„Gerüste haben keine Seele. Wie langweilig“, gab Leni unbeeindruckt zur Antwort.
„Alphabet-Gerüste haben sogar Heerscharen von Seelen, jedenfalls die, die in Bibliotheken schmoren“, widersprach ich, während ich Opas Buch hochhielt.
„Jeder, der dieses Buch gelesen hat, hat ihm nämlich seinen Odem eingehaucht.“
„Ach ja?“, grinste Leni. „Na, da kannst du aber froh sein, dass dieses Buch, wenn ich es mir genauer anschaue, nur die Seelen deines Opas und die meiner Wenigkeit beherbergt.“
Ich sah sie fragend an. „... und nicht die Seele deiner Oma Anita“, fuhr Leni fort, „die dir gewiss an die Kehle gehen würde – nach dieser Nacht und deiner mittlerweile im ganzen Dorf zur Erheiterung einiger Bewohner dieses verträumten Fleckchens bekannt gewordenen Vorliebe, in Gesellschaft des Borstenviehs zu nächtigen.“ Sie feixte.
„Du meinst in Form eines Flaschengeists mit Giftzahn und Trägerrock?“, fragte ich grinsend. Leni nickte heftig und kicherte.

„Bilde dir nur nicht ein, dass ich jemals wieder einen Trägerrock für dich nähe“, Lene“, donnerte plötzlich Omas Stimme hinter uns. Mir kam es vor, als trete der Leibhaftige aus dem höllenheißen Dämmerlicht des Herrenzimmers in die arglose Kühle der Veranda. Leni zuckte zusammen, fing sich aber sofort wieder und fragte mit amüsiertem Lächeln:
„Ach, du bist es, Anita, wie lange stehst du denn schon hier herum?“
„Lange genug, um mich in meiner Vermutung bestärkt zu wissen, dass du mich ständig bei Katja schlechtmachst. Deshalb ist sie mir gegenüber auch immer so aufsässig.“ Oma schickte ein paar Giftpfeile auf Reisen, in der Hoffnung, einer würde Leni außer Gefecht setzen.
„Du träumst, Anita“, murmelte Leni unsicher und verzog sich auffallend schnell in die Küche.
Bevor Oma mir mitteilen konnte, womit sie mich beauftragen wollte, waren Hannes, Kröger und Heiner zurückgekehrt. Hannes hielt immer noch jene Jacke, mit der er vor dem Pferdestall umhergefuchtelt hatte, in der Hand. Er rannte damit auf Luchs zu, der neben der Bank unter der Eiche lag, hielt ihm das Kleidungsstück unter die Schnauze und bestürmte das arme Tier in seiner befehlerischen Art, die ihm hin und wieder eigen war: „Such, alter Junge! Such! Such, verdammt nochmal!“
Der gute alte Luchs wedelte müde mit dem Schwanz, winselte leise und senkte seinen Kopf auf die Vorderpfoten.
„Das ist vielleicht ein Hofwächter!“, empörte sich Hannes. „Wohl einer von diesen heiligen drei Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts bellen,“ lästerte er.
Wenn das Opa gehört hätte ..., dachte ich wütend. Opa hätte ihm die Leviten gelesen und ihm ein paar Takte erzählen können – über altgediente, treu ergebene Hunde. Hannes war selber ein Affe, kein heiliger zwar, sondern eher ein blöder.
Ich sprang die Freitreppe, die in die Veranda führte, hinunter und zeigte deutlich, auf wessen Seite ich stand, indem ich Luchs über den Kopf strich.
Hannes schrie sofort los: „Ein Polizeihund muss her! Papa; du musst sofort Herrn Fuchs anrufen!“
„Ja doch, Hannes, gleich, beruhige dich“, erwiderte Kröger unwillig und wandte sich an Heiner: „Sei so gut und kümmere dich um den Höhenförderer. Das Beste wird sein, du fährst ihn in die alte Scheune. Es gefällt mir nicht, dass er Tag und Nacht auf dem Hof herumsteht. Ich sehe dieses Monstrum morgens schon doppelt.“
„Wird gemacht, Chef“, sagte Heiner und rannte sofort über den Hof, als sei er froh, von der Bildfläche verschwinden zu dürfen.
„Es sieht ganz so aus, als gebe es neuen Ärger, Katja“, seufzte Kröger, als ich ihn und Hannes fragend ansah. Er wischte sich mit sorgenvoller Miene den Schweiß von der Stirn.
„Hannes hat Helges blutverschmierte Arbeitsjacke im Park gefunden.“ Mir gefror augenblicklich das Blut in den Adern, und obwohl mir die Angst die Kehle fest zuschnürte, fragte ich mit heiserer Stimme: „Wo denn genau?“
„Sie lag vor dem Zaun – vom Park aus gesehen“, informierte mich Hannes mit bebender Stimme.

„Was sollte diese blöde Frage, Katja?“, wollte Hannes von mir wissen, als sein Vater im Haus verschwunden war.
„Blöde Frage? Du kommt dir wohl wahnsinnig schlau vor?“, fuhr ich ihn wütend an.
„Ich wette, die Jacke, die du wie deinen Augapfel hütest, lag genau an jener Stelle, wo wir immer die Abkürzung zu Tante Selma nehmen.“
„Stimmt haargenau“, gab Hannes mir Recht. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Verblüffung.
„... damit wir sie auch ganz bestimmt finden, ,Kindchen'“, ergänzte ich meinen Verdacht unter Verwendung seiner liebsten Vokabel und lächelte ihn milde gestimmt an, weil er wider Erwarten keine aberwitzigen Ausflüchte gemacht und normal geantwortet hatte.
„Hm“, machte Hannes. Er sah mir ohne Umschweife in die Augen. In seinem Blick lag ein Hauch von Anerkennung, die mich nach der Nacht im Schweinestall mit meinem Schicksal versöhnte.

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