Ein Fall für Commissario Grünetti – 2. Der Serientäter

Bild von Alf Glocker
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In dem neu eingerichteten Dezernat für Schicksalskriminalität untersucht Commissario Grünetti, zum x-ten Mal, die Spuren eines ominösen Serientäters, den er unter dem Synonym „Reiner Zufall“ abgeheftet hatte. Immer wieder hat er die ca.
10 000 Seiten umfassende Akte hervorgeholt, um sie zu studieren. Die darin enthaltenen Informationen wurden bislang von allen offiziellen Stellen, sprich von sämtlichen Vorgesetzten und deren Vorgesetzen, längst als „uninteressant“, „verjährt“ und dergleichen apostrophiert, oder einfach für unbequem gehalten und deshalb nur zu gerne unter den Teppich gekehrt.

Dabei ist die Vorgehensweise dieses Verbrechers geradezu sensationell. Jede seiner Gräueltaten scheint so perfekt inszeniert – ja geradezu homogen in den Lauf der übrigen Ereignisse, der sie umgebenden Allgemeingeschichte eingepasst –, daß eigentlich niemandem etwas daran auffallen kann. Commissario Grünetti hält sich daher für einen der ganz, ganz wenigen, die überhaupt auf ihn aufmerksam geworden sind. Das Allermerkwürdigste an diesem (nicht wirklich existierenden) Fall ist jedoch: Alle übrigen, von denen der Commissario glaubt, daß sie ebenfalls von den seltsamen Ereignissen in ihren Bann gezogen wurden, sind bisher klammheimlich ermordet worden! Aber darüber darf nur geschwiegen werden …

Doch damit nicht genug. Nach jedem aktuellen Vergehen „Reiner Zufalls“ hatte die vollendete Missetat ganze Horden von Profilern, die teils falsch (wie z. B. Politiker oder Religionswissenschaftler) oder auch echt (wie Polizisten, Reporter und Träumer) auf den Plan gerufen. An dem Phänomen „Zufall“ schieden und scheiden sich die Geister nämlich bis heute. Es beeinflusst ganz sicher den Ablauf der Zeit, mutmaßt Commissario Grünetti, nicht nur folgerichtig, sondern auch mutig ... und offensichtlich ist nur die große Masse der Gleichgültigen wenigstens insofern vor ihm sicher, als es ihr erlaubt ist, in Unwissenheit zu verenden.

Nach bisher unbestätigten Zeugenaussagen begann alles mit der Vertreibung eines gewissen Herrn „Adam“ aus dem Paradies. Diese mythologische Gestalt hatte etwas entdeckt (das Erste, was ein Mensch überhaupt entdecken kann: Früchte vom Baum der Erkenntnis), weshalb er sogleich verfolgt und mundtot gemacht, also so gut wie ermordet wurde. Denn im Schweiße seines Angesichts hatte er keine Gelegenheit mehr, an die Früchte der Erkenntnis zu denken. Ein früher sibirischer Gulag also!? Was denn sonst?!

Offizieller Täter war damals ein sogenannter „Erzengel“, namens „Gabriel“ gewesen. Die Waffe: ein Flammenschwert. Das Tatwerkzeug wurde nie gefunden. Es muß befürchtet werden, daß es vom Täter, oder dessen Anstifter, entweder sehr gut versteckt, oder gar vernichtet wurde. Eine herumirrende Frau, die damals die Komplizin Adams war und den Tathergang noch in etwa schildern konnte, sagte damals aus, es sei alles nur Zufall gewesen, denn ihr Mitverschworener habe zunächst die Absicht gehabt, seine Entdeckung geheim zu halten.

Es sei lediglich Tatsache, daß Adam eine genaue Aufarbeitung seiner aufkeimenden Erkenntnisse in Erwägung zog – womit er bereits, so die vage Vermutung der Frau, für gewisse Kreise suspekt geworden war. Es müsse, erläuterte sie weiter, so etwas wie eine Schwarze Liste geben, auf der alle stehen, die jemals die Absicht hatten, respektive haben, oder haben werden, die ungeschminkte Wahrheit sagen zu wollen. Und das, obwohl Letzteres nur zwischen den Zeilen ihrer Aussagen hervorgehe.

Nachdem, zum gegenwärtigen Zeitpunkt, Adam der einzige war, der für eine Bestrafung infrage kam, standen, so mutmaßte die Frau weiter, die unter der Bezeichnung „Eva“ im Vernehmungsprotokoll steht, bereits seine sämtlichen, einschlägig begabten Nachkommen auf der Liste. Abel, der erste Erfinder z. B. Für seine Ermordung brauchte es auch bereits keinen Erzengel mehr, da der Delinquent glücklicherweise einen Bruder hatte. Die Verantwortung zur Aufrechterhaltung der von Reiner Zufall so sorgsam gepflegten Moral, konnte also damals schon in niedrigere Instanzen delegiert werden. Davon unbenommen bleibt allerdings: Irgendwer hat wohl immer gewusst, wer es dem armen alten Adam später einmal gleichtun würde.

Der zuständige Vernehmungsbeamte „Luzifer“ konnte auch kein Licht in das Dunkel bringen. Bald vermutete er ein zweites Tohuwabohu. Er quittierte daraufhin resigniert den Dienst und ging in den Untergrund. Für weitere Untersuchungen fühlt sich somit nur noch Commissario Grünetti berufen. Der allerdings klagt bereits über Alpträume bei Dunkelheit und Angstzustände, undefinierbarer Herkunft, bei Licht. Fürchterliche Zweifel – auf die sich ja bekanntlich nur „Teufel“ reimt – plagen ihn Tag und Nacht, aber auch in den beiden Dämmerungen dazwischen.

Warum, in drei Teufels Namen, hat keiner Heinrich Kramer (den Verfasser des Malleus Maleficarum), vor der Niederschrift des unseligen Buches umgebracht? Warum gelang es nicht, Hitler zu beseitigen, bevor er beinahe die ganze zivilisierte Welt ins Chaos stürzte? Und warum lebte Josef Stalin vergleichsweise so unerhört lange, während John F. Kennedy als relativ junger Mann problemlos ermordet werden konnte? Warum starb der Habsburgische Kronprinz Rudolf in Mayerling „gerade noch rechtzeitig“, bevor er Gedanken für ein liberales Europa propagierte (?) und Princess Di vor der Geburt eines halbarabischen Verwandten des englischen Thronfolgers?

Wer hatte ausbaldowert, daß Nostradamus’ erste Frau und deren Kinder sterben, aber Maria von Medici leben sollte? Wer arrangierte Möllemanns seltsam anmutenden Fallschirmabsprung, zu dem lächerlich gleichzeitigen Einsatz staatlicher Organe einer Hausdurchsuchung bei ihm? Gab es ein höheres Prinzip zur Verhinderung der Wahrheit? Da fragt man sich doch: „Warum nicht?!“

Natürlich zweifelt Commissario Grünetti des Öfteren an seinem Verstand. Das ist er sich ganz einfach schuldig. Doch manchmal, wie heute zum Beispiel, erliegt er wieder der Verlockung, aus dem Paradies verbannt zu werden, wie sein Ahnherr vor undenklichen Zeiten. Dann treibt es ihn in absurde und verstiegene Phantasien, unter denen er leiden kann wie ein kleines, ungehorsames Kind. In einem solchen Teufelskreis angelangt – denn ein Ende der spannenden Untersuchungen ist nicht absehbar – ist er für nichts mehr zu gebrauchen.

Er hört nicht auf seine ungeborenen, oder auch hungernden Kinder, er liebt keine Frau mehr als sein Leben, er ist weder ein pflichtbewusster Bürger noch ein praktizierendes Gemeindemitglied, kurz: er ist ein Totalversager. Denn eines ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für uns gewiss ... „Wer in dieser Welt lebt, der muss sich ihrem Werden und Vergehen in der Zeit anpassen." Und das bedeutet: Wer immer das festgelegt haben mag, der kann entweder nur der Täter selbst sein, oder mit ihm direkt unter einer Decke stecken.

In diesem Augenblick macht es aber auch schon „puff“ und der Commissario ist verschwunden. Nun liegt es an uns nachzuprüfen, was es mit den Hintergründen des Zufalls auf sich hat. Wer versucht sein Glück und bringt sich absichtlich in Gefahr? Zugegeben, eine plausible Lösung zu finden ist sehr schwer, doch wer sich bemüht, der wird zweifellos herausfinden, daß es insgesamt nur vier mögliche Lösungen geben kann ...

1.Wir haben diese Geschichte überhaupt nicht gelesen,
2.Sie wurde niemals geschrieben,
3.Wir haben uns nicht für sie interessiert, oder
4.Sie geht uns nichts an, weil wir selber mit dem Täter identisch (oder sein ureigenstes Werk) sind und deshalb eine Aufklärung am liebsten verhindern würden.

Sollte etwas anderes auf uns zutreffen, ist es höchste Zeit, uns die richtigen Gedanken zu machen.

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Kommentare

05. Jan 2019

REIN zufällig hab ich's doch gelesen -
Und es ist lesenswert gewesen ...

LG Axel

05. Jan 2019

Haha, man dankt - Reiner Zufall ist also doch für was gut.
Das macht wieder neuen Mut!

LG Alf