Es war, wie jeden Abend 19 Uhr, Zeit für meine Meditation.
Ich versuchte mich entspannt hinzusetzen, schloss meine Augen und begann bewusst meinen Atem zu beobachten.
Ich nahm wahr, wie die Gedanken kamen und gingen, doch es gelang mir, mich an keinen zu haften, so zogen sie vorbei.
Dann begann ich allmählich mit meiner Übung: den Schmerz, der mit meiner Kindheit verbunden war, in Liebe zu umarmen.
Ich weiß. Verrückte Sache. Wieso tut man sich soetwas freiwillig an? Doch es heißt : Wenn man den Schmerz in Liebe umarmt, was wirklich eine Herausforderung ist, dann verschwindet er irgendwann. Ich konnte es mir kaum vorstellen. Zu schrecklich waren die Dinge, die ich in meiner Kindheit erlebt hatte.
Doch ich beschloss daran zu glauben, weil es einfach so wundervoll klang. Und so saß ich da und umarmte mit all meiner Liebe den Schmerz.
Während ich den Schmerz umarmte, besuchte ich gleichzeitig auch die kleine Ella, mein inneres Kind. Das war nicht leicht, weil ich ja wusste, dass es ihr nicht gut ging, dass sie wahrscheinlich auf unserer Lieblingswiese sitzt und weint. Dennoch machte ich mich zielsicher auf den Weg, denn ich war schon sehr oft dort gewesen : als Kind, wenn ich mein Zuhause nicht mehr aushielt, und jetzt, als Erwachsene, um die kleine Ella zu besuchen.
Ich hielt nach ihr Ausschau und sah sie tatsächlich auf unserer Lieblingswiese sitzen, dort, unter der großen Akazie, wo, etwas weiter hinten, die Tannen so beruhigend rauschten. Da saß sie, die kleine Ella, und blickte mit verweintem Gesicht auf die Stadt, die sich unterhalb der Wiese ausbreitete. Ich ging auf sie zu und freute mich darauf, sie liebevoll in den Arm zu nehmen. Das war mir immerhin viel lieber, als den Schmerz zu umarmen. Aber irgendwie gehörten die beiden auch zusammen und ich konnte sie nicht voneinander trennen, so sehr ich mich auch bemühte.
Als mich die Kleine erblickte, sprang sie auf, wischte sich die Tränen mit dem Ärmel des Kleidchens, das sie trug, weg, und lief, wie Kinder es so machen, mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.
"Da bist du ja endlich wieder", rief sie mit erregter Stimme.
"Wo warst du so lange? Ich habe dich so sehr vermisst! Wo warst du?" Sie sprang in meine Arme und ich drückte sie ganz fest an mich.
"Ach, liebe, kleine Ella", sagte ich mit ruhiger Stimme, "jetzt bin ich erwachsen und Erwachsene haben furchtbar viel zu tun. Außerdem ist es nicht immer leicht, dich zu besuchen."
Ella schaute mich mit großen Augen an. "Warum nicht?, fragte sie mit leiser Stimme und ihr Blick senkte sich langsam zu Boden.
"Du bist immer so traurig, meine Kleine. Und wenn du traurig bist, dann bin ich es auch. Das ist so schwer auszuhalten", antwortete ich mit sanfter Stimme.
"Magst du mich nicht, wenn ich weine?", fragte Ella ängstlich.
"Doch, natürlich mag ich dich, sehr sogar, ganz gleich, wie du dich fühlst. Wir zwei gehören doch zusammen. Aber manchmal möchte ich am liebsten vergessen, wie traurig du bist. Es ist nicht deine Schuld, meine Kleine."
"Wirklich nicht?", fragte Ella, immer noch mit ängstlichem Blick, der sich langsam wieder aufrichtete.
" Wirklich nicht. Es ist auch nicht deine Schuld, was dir passiert ist", versuchte ich Ella zu trösten.
Sie dachte kurz nach und sagte :" Aber sie schreien mich an und tun mir sehr weh! Jeden Tag! Alles mache ich falsch! Ich bin nicht in Ordnung so, wie ich bin, sonst wären sie nicht so oft böse auf mich!", gab mir Ella zu verstehen.
"Das ist nicht wahr, meine liebste Ella. Du bist genau richtig so, wie du bist. Nur sie sind es nicht mehr. Und das merken sie nicht. Sie haben vergessen, wie es war, Kind zu sein und wie sehr sie damals gelitten haben, als sie selbst klein waren".
Mit sanfter Stimme erzählte ich Ella von der Kindheit, die unsere Eltern hatten , wie schmerzhaft diese war. Ich erzählte ihr, dass sie anfingen den Schmerz zu leugnen, ihn verdrängten , um ihn nicht aushalten zu müssen, dass dieses Verhalten im Laufe der Jahre seine Spuren hinterlassen hatte und aus ihnen das gemacht hatte, was sie nun waren:
Aus ehemaligen Opfern sind Täter geworden.
Da sie ihr eigenes Leid nicht erkannten, nahmen sie auch unseres nicht wahr.
All das erzählte ich der kleinen Ella, wie ich es schon oft getan hatte. Doch dieses Mal, war es anders. Sie hörte zum ersten Mal sehr aufmerksam zu und lief nicht weg.
"AUFHÖREN!", hörten wir plötzlich eine Stimme, wie aus dem Nichts, rufen.
"SCHLUSS DAMIT! ES REICHT!", rief die Stimme erneut.
Ella und ich schauten uns erschrocken an. Was war das denn? Wir schauten uns besorgt um, doch wir konnten niemanden entdecken.
Ich fasste mir ein Herz und fragte: "Wer bist du? Und, womit sollen wir aufhören?"
"Wer ich bin?!? Wer Ich bin?!", keifte die Stimme.
"Ihr kennt mich nur zu gut! Ich bin's, euer Schmerz! Und hört endlich auf, mich zu umarmen! Es gibt nichts, was ich mehr hasse!"
Ella und ich schauten uns ungläubig an.
"Du bist unser Schmerz? ", fragte ich, nachdem ich mich etwas gefangen hatte.
"Ja! Der bin ich! Hört endlich auf, mich zu umarmen! Igitt!!
Ich halte das nicht mehr aus! HALLO! Ich bin Schmerz! Ich will da sein und leiden lassen! Am liebsten unbemerkt! Einfach schön aus meinem Versteck heraus, leiden lassen! Und was macht ihr? HÄ?!? Mich suchen und umarmen! Und das auch noch in Liebe! Das hält doch kein Schmerz lange aus!", brüllte er.
" Ich möchte auf der Stelle, dass ihr mich loslasst! Sofort!"
Ella und mir fiel die Kinnlade runter. Mit großen Augen und offenem Mund standen wir da, hielten uns aneinander fest und konnten nicht glauben, was da gerade geschah.
Nach einer Weile riss ich mich zusammen und fragte etwas verunsichert :" Ok, aber wenn wir dich loslassen, wo gehst du dann hin?" Ich hatte Angst, dass es für uns noch schlimmer kommen könnte, als es eh schon war.
Der Schmerz antwortete deutlich genervt: " Ich suche mir einfach jemand anderen, den ich leiden lasse."
'Oh. Wirklich? ", fragte ich sichtlich enttäuscht. "Mir wurde gesagt, du verschwindest einfach, wenn die Zeit gekommen ist, und jetzt erfahre ich, du suchst dir ein anderes Opfer? Das möchte ich nun wirklich nicht!", gab ich ihm zu verstehen.
"Ich gehe dahin, wohin man mich ruft. Einladungen gibt es mehr als genug!", erwiderte der Schmerz.
"Du wirst eingeladenen?", fragte ich ungläubig.
" Ja, ich werde eingeladen. Ohne Einladung läuft gar nichts!", antwortete er.
" Wie sollte ich denn sonst Leid erschaffen können, wenn ich nicht eingeladen bin?", zischte der Schmerz. "Und hoffentlich habe ich das nächste Mal mehr Glück, als mit euch beiden.
So, genug geredet! Öffnet endlich eure Arme, und lasst mich los! Bitte! "
Ella und ich schauten uns vertrauensvoll an und öffneten langsam und vorsichtig die Arme, natürlich in Liebe.
Wir konnten kaum glauben, was dann geschah:
Dort, wo der Schmerz sein Zuhause nannte, machte sich Freude breit. Einfach so. Wie aus dem Nichts.
Und das war noch nicht alles. Die Freude wuchs und wuchs, weiter und noch weiter, bis sie Glückseligkeit war.
Das war so unbeschreiblich schön. So etwas hatten Ella und ich noch nie erlebt. Es war magisch. Einfach nur magisch.
Wir fielen uns gegenseitig in die Arme und weinten gemeinsam, aber dieses Mal nicht vor Kummer, sondern vor Glück. Vor absoluter Freude und Glück.
Ein tiefer Friede machte sich in jeder Faser unseres Körpers breit. Und dann geschah das Wunder:
Ella und ich verbanden uns zu einer Einheit!
Und es fühlte sich so zauberhaft und richtig an! Ein Gefühl der Vollständigkeit floss durch uns hindurch. Das war so anders! So neu! So gut!
Endlich waren wir vereint und nicht mehr voneinander getrennt. Und das Beste:
Der Schmerz war gegangen. Doch der Friede, die Freude und die Liebe sind geblieben.