(Ein Gebet)
Liebe! Was soll ich mit diesem Begriff anfangen? Tausend interessante Dinge fallen mir dazu ein, Tausend Lügen? Tausend Erfindungen? Oder nur tausend andere Namen dafür? Um der Sache auf den Grund zu gehen, versuche ich zu meditieren. Ich entferne mich, mit Hilfe meiner Phantasie, aus mir selbst. Ich reise in die Atmosphäre, in den Weltraum, ich überschreite die Lichtgeschwindigkeit. Die Erde ist verschwunden, in einem fremden Kontinuum aus Staub und Strahlen rotieren die Galaxien um einen schwarzen Punkt, und wie eine Mauer steht plötzlich eine Macht vor mir, die mich davon abhalten will, jemals wieder zurückzukehren. Aber da krampft sich etwas in mir, oder um mich herum, schmerzhaft zusammen, denn ich habe jetzt etwas erkannt! Es ist der Tod, der brutal mein Wiedererwachen verhindern möchte.
Unsagbare Angst fährt in meinen zurückgelassenen Körper, in dieses haarige Geschöpf voller Begierden, das sich nur deshalb akzeptabel finden kann, weil es keine Beispiele wertvollerer Arten um sich hat. Ich fürchte mich davor, nicht mehr existieren zu dürfen. Außer meiner Phantasie (und vielleicht ein Paar unsicherer Hinweise durch Träume und Visionen) liegen mir, in der „Realität", keine Beweise für ein Leben nach dem Tod vor. Und auf einmal bemerke ich, wie sich etwas eingeschlichen hat. Beinahe wäre es mir gar nicht aufgefallen, aber es ist da wie das Licht, wie der Rücksturz zur Erde, wie der immer noch in Meditation versunkene Mensch. Dort sitzt er, atmend, pulsierend, umfangen von einem geheimnisvollen Schimmer, seinem Dasein. Die Augenblicke haben nicht aufgehört sich abzuwechseln: Der Film läuft!
Langsam kommt mein Mensch zu sich, saugt die Phantasie zurück, durch den Hirnstamm, in sein pochendes Herz und zurück in ein Meer aus – Liebe. Zwar hat ihm die Angst etwas bewiesen, nämlich, daß es mein Mensch liebt, am Leben zu sein. Anscheinend liebe ich mich! Oder wie sollte man das sonst bezeichnen?! Das ist ein Geständnis bei vollem Bewusstsein, das sich viele Menschen lieber so unbewusst wie Tiere machen. Bei Tieren könnte man sogar sagen, die Evolution setzt eine solche Einstellung eigentlich sogar einfach voraus. Und trotzdem gibt es auch im Tierreich Situationen, die offenbar ganz deutlich einen Zustand in den Vordergrund spielen, für den ich hier eine Erklärung suche.
Oft bedeutet dieser Zustand eine kleine Revolution, ein Aufbegehren gegen ein Schicksal, das im Allgemeinen ungerecht zu sein scheint. Ist das ein Protest gegen Gott? Mir sind Fälle bekannt, in denen der Hund nichts mehr fraß, weil der Herr verstarb, der Affe hinter der Horde zurückblieb und im Baum verhungerte, weil ein Leopard seine Mutter geholt hatte, der Adler apathisch wurde, weil er in einen Käfig kam, der Lemming sich von der Klippe ... weil es die andern Lemminge auch taten. (Das ist zwar nicht wahr, aber ein sehr anschauliches Beispiel?) Nein, Freunde, Spaß beiseite! Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück und beginnen wir von vorne.
Die Religionsphilosophie lehrt uns sogar, daß wahre Liebe selbstlos zu sein hat. Sie darf sich also an keinen Merkmalen wie Schönheit oder an einem anderen Reichtum festmachen? Man liebt sich, weil man nicht tot sein möchte. Ist meine Liebe demnach frei von Egoismus? „Wer sich selbst nicht lieben kann, der kann auch niemand anderen lieben." Diese blauäugige Variante klingt mir in den Ohren, wenn ich mich neutral betrachte. Und sie bringt mich auf eine Spur. Mir fällt auf, daß mir mein eigenes Selbst, mein Körper, meine Psyche nicht genügt. Was ich bin, das möchte ich auch auf andere verbreiten. Einen Zweitmenschen möchte ich besitzen, einen, in dessen Fleisch und Sinnen ich mich ebenfalls wohlfühlen kann. Dies ist so natürlich wie die Reaktion einer Frau, die Mutter werden will, um ihrer Existenz die Krone aufzusetzen. Eine goldene Krone lobenswert guter Vorsätze, besetzt mit den Juwelen der Liebe.
Aber so rein, wie sie uns in diesem Zusammenhang erscheint, so zweifelhaft, so fehlgeleitet kann sie auch sein, diese Liebe. Mit anderen Worten: Ihre Juwelen finden sich nicht nur in den Kronen aufopferungsfreudiger Selbstbestätiger, sie können auch vor die Säue geworfen werden – jedenfalls mit den Augen einer sinnsuchenden Moral behaftet. Hat Liebe etwas mit Kreativität zu tun? Dann würde sie jedoch völlig unsinnig erscheinen, wenn sie krass überzeichnet auftritt. Dann müsste man sich vorsehen? Manchmal schon …
Leider wird immer wieder bekannt, daß sich die Justiz mit „Gefühlen" beschäftigen darf, die in ihrer erfüllendsten Form durch den Genuss von Qualen aufgetreten sind, die heißgeliebte „Objekte“ durchleben müssen. Diese Verbrechen sind uns als „Lustmorde“ bekannt, oder auch als „Vergewaltigungen“. Als sadistische Umtriebe also. Eine andere Spielart fehlgeleiteter Liebesgefühle, die weit seltener gerichtlich verhandelt wird, betrifft den Masochismus. Hier wird der geliebte Mensch erst innigst empfunden, wenn er peinigen kann und will. Die instinktive „Befriedigung“ geht also auch hier mit der Liebe Hand in Hand. Ob sie eine untrennbare Verbindung eingehen, ist eine nähere Untersuchung wert.
Menschen können Menschen lieben, weil ihnen irgendetwas – gelegentlich kann das einiges sein – an einem andern gefällt. Menschen können aber auch Tiere aus dem gleichen Grund lieben. Dies muss nicht geschlechtlich sein, hat jedoch meistens mit der Anwendung irgendwelcher Zärtlichkeiten, oder mit dem Ausleben von Herrschaftsansprüchen zu tun. Mit dem Geben und Nehmen von ......... (Beliebiges bitte selbst eintragen) also. Menschen sind sogar in der Lage, Gegenstände zu lieben. Autos z. B., Stereo- oder Computeranlagen. Und ganze Forschungs- und Designerzweige befassen sich damit, Aussehen, sowie Charakter der Dinge so anzupassen, daß die entsprechenden Reize ausgelöst werden.
„Reizend“ oder „lieblich“, eigentlich längst veraltete Bezeichnungen für das etwas modernere Wort „begehrenswert“, kurz gesagt: geil! Den eben genannten Wörtern stehen gegenüber: „ätzend“, oder althergebracht ,,hässlich«. Was also nicht lieblich ist, darf gehasst werden? Die Praxis beweist die Richtigkeit dieser Annahme. Aber wo bleibt die Theorie? In der Theorie können auch hässliche Dinge, Tiere, oder Menschen, geliebt werden.
Was jedoch geht in Leuten vor, die das in der Praxis auch noch absichtlich tun? Stellen sie nicht eine Ideologie, oder besser noch, einen Glauben, neben die, vorgegebenermaßen geliebte Hässlichkeit, um de facto alles Unangenehme besser übersehen zu können? Wenn dies im Sinne der Menschlichkeit geschieht, ist es sicherlich ein edles und sogar menschlich unverzichtbares Unterfangen. Nur aufgeilen sollte man sich damit vielleicht nicht. Oder ist das bereits wieder völlig egal? An dieser Stelle geraten wir in einen Strudel aus Wahnvorstellungen ...
Zwei alte Männer küssen sich auf einer Parkbank leidenschaftlich, wobei sie unheimlich eklige Speichelsubstanzen austauschen. Hinter ihnen liegt eine junge Frau im Gras, die sich beinahe die Seele aus dem Leib schreit. Sie gebärt, voller Liebe (?), ihren Nachwuchs, dessen gequetschter Schädel sich eben durch den Geburtskanal dreht. Abseits davon vergreift sich ein ungehobelter Barbar an einem Kind, weil er es für unwiderstehlich entzückend hält. 10 000 km davon entfernt fällt gerade ein Soldat aus Liebe zu einem Vaterland voller Halbaffen, und irgendwo betet ein gläubiger Mensch, aus Liebe zu einem Gott, der das alles zugelassen hat. Mir wird schwindlig und ich muss aufpassen, daß ich nicht – diesmal ganz ohne Meditation – aus meinem Körper in ein kaltes Universum hinausgeschleudert werde.
Als ich geistig wieder zum Stehen komme, fällt mir auf, daß die Anlagen zur Perversion womöglich erst die sogenannte „Wahre Liebe“ ermöglichen, oder ist der Geburtsvorgang kein, im weiteren Sinne, masochistischer Akt? Oder gefällt es gesunden Männern etwa nicht in fremdartiges, lebendiges Fleisch einzudringen, um dessen zentralem Nervensystem dabei einen Rauschzustand zu bereiten, der ein klein wenig an eine Folter erinnert?
Stöhnen und Schreien als Ausdruck der Liebe, ob auf der Spielwiese oder im Kreißsaal? Was fällt einem dazu noch ein? Was mir dazu noch einfällt, weiß ich: ein schlechtes Gewissen! Logischerweise kann ich es mir als Mensch (= Krone der Schöpfung) nicht bieten lassen, daß von Grund auf widerwärtige Eigenschaften für ein, von Grund auf erstrebenswertes Ziel, mitverantwortlich zeichnen. Eine Glorifizierung tut folglich not. Ich möchte ja an der Liebe festhalten, denn schließlich habe ich die, bereits erwähnte, Angst vor dem Tod. Und die Liebe ist das einzige Mittel dagegen. Ergo ist sie romantisch!
Romantisch wie eine laue Sommernacht voller Versprechungen, romantisch wie eine Heldentat, wie ein Badestrand voller barbusiger Schönheiten, wie die Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind. Das beeindruckendste Beispiel hierfür stammt allerdings wieder mal aus dem Tierreich. Bei einer bestimmten Spinnenart löst die Mutter ihr Körperinneres, voller Hingabe, auf um es ihren etwa hundert niedlichen kleinen Krabbelbabys als Nahrung zu reichen. Ein wahrhaft effizienter Ersatz für die in Liebe dargereichte Brust eines Menschenweibchens – wenn auch nur für ein einziges Mal.
Doch halt, das ist eigentlich gar nicht romantisch. Das war wohl eher ein Ausflug ins neutrale Denken, gepaart mit Ironie, oder gar mit Sarkasmus? Wie dem auch sei. Wenigstens ist mir eines dadurch klar geworden: Die Liebe ist eine Himmelsmacht! Wer ihr mit dem Verstand zu Leibe rücken will, der wird sie niemals finden. Und nur, wer sie nicht durch und durch versteht, wird sie direkt erleben können.
Die Apotheose der Liebe findet in der Dunkelheit statt, nur erhellt von den Kerzenflämmchen der Zärtlichkeit und der Gedankenlosigkeit – abgesehen von den kleinen geistreichen Intrigenspielchen natürlich, die den Liebesakt erst ermöglichen. Doch psssst! Solche Erkenntnisse müssen unbewusst bleiben. Sie dürfen weder ausgesprochen noch intensiv gedacht werden, sonst wirken sie sich verheerend auf das Allgemeinwohl aus. Wer würde sich schon noch unbeschwert vom Schicksal dazu verleiten lassen, bereitwillig in orgiastische Augenblicke zu versinken, um den Körpersäften alle Türen zu öffnen, wenn er berücksichtigte
a) wie das zustande gekommen ist und
b) was daraus für Situationen entstehen können.
Niemand?
Womöglich würden wir dann ganz einfach aussterben. Und dieser Gedanke bringt uns noch einmal zum Ausgangspunkt zurück: zu der Liebe zu uns selbst.
Wenn wir nun eine Sekunde lang vergessen, was wir gelernt haben – bitte nur eine einzige Sekunde, denn wir wollen uns ja wieder verlieben – dann müssen wir zugeben, daß jede Liebe bestimmte Gründe hat. Angefangen beim Hormonkreislauf, bis hin zu ideell-symbiotischen Verhältnissen kontrastiert der Begriff „Liebe“ mit seinen gebräuchlichsten Deutungen aus allen Bereichen. Und was dem partout nicht zur Aufgabe bereiten Denker noch übrig bleibt, ist ein verwässerter Verschnitt der Liebe, für den er die alleinige Verantwortung trägt. Das geschieht ihm aber recht. Sollen doch die unverbesserlichen Vor- und Nachdenker, die akribischen Analytiker, die ganze Verantwortung dieser absurden Welt tragen, während wir Genießer dafür sorgen, daß ihnen die Probleme nicht ausgehen.
So weit, so gut. Aber bleibt da nicht noch eine Frage offen?
Selbst der größte Denker, so kommt es mir vor, muß doch spüren, daß da noch eine echte Antwort – die wichtigste – fehlt.
Alles im Universum scheint dubios zu sein. Alles scheint im Widerspruch mit sich selbst zu liegen. Der Tag mit der Nacht, das Gute mit dem Bösen, die Liebe mit dem Hass ... alles ist verschieden interpretierbar. Alles, bis auf eines. Bis auf die Kraft, die sämtliche Seiten des Universums repräsentiert, die es erschaffen hat. Und hier müsste auch der Grund dafür liegen, warum wir armselige Erdenwürmer immer begreifbare Ursachen für unser Handeln brauchen. Ganz einfach: Anders würde ein Universum wohl nicht funktionieren. Muss es nicht die Gesamtheit aller Möglichkeiten spiegeln, die sein Ursprungsgedanke- oder Gehirn aufweist?
Dies ist die letzte Frage. Und beantwortet werden kann sie nur so: Die einzige wirklich wahre Liebe, die frei von Neid oder Todesangst ist, kann nur die Liebe Gottes ... zu sich selbst sein. (Denn ihr verdanken wir unsere kuriose Existenz!)
Amen.