Das Wort

Bild von Dieter J Baumgart
Bibliothek

Natürlich interessiert ihn das Buch, nicht nur wegen der Begleitumstände, die eine Veröffentlichung zu Lebzeiten des Autors verhinderten. 64 Jahre mußten vergehen, bis das Manuskript Der Überläufer zufällig im Nachlaß des Verstorbenen gefunden wurde. Die Rede ist von Siegfried Lenz. Und die Erfahrungen, die er mit seinem Lektor Otto Görner bei Hoffmann @ Campe in der Zeit zwischen 1951 und 1952 machen mußte, können durchaus im Zusammenhang mit politischen Entwicklungen in der neuen Bundesrepublik gesehen werden*).
Doch zurück zu unserem Leser. Es ist die besondere Ausdrucksform, der intensive Umgang mit der Schriftsprache, die Schattierungen, die ihm, dem nur acht Jahre jüngeren Zeitgenossen unversehens einen Schauer über den Rücken jagen. Und bald stellt er fest, daß er selbst zur Zeit, da die fiktive Handlung spielt, keine 100 km vom Schauplatz entfernt, gelebt hat.
Und dann kommt die Seite 181.
Er liest: »Schwistko jedno«, sagte der Soldat.
Der Ausruf wird nicht übersetzt – und doch, das sind nicht irgendwie zwei polnische Worte.
Schwistko jedno sinniert er, schwistko jedno.
Schißkojendo! kommt das Echo aus dem Unterbewußtsein. Er kennt das, er kennt es von seiner Mutter, ein eher gleichgültig abwertender Ausdruck. Etwa so, wie…ist doch egal – was soll’s – nicht zu ändern. Eine Bemerkung, die er im letzten Kriegsjahr und auch noch danach oft hörte. Ein Blick ins Internet: Polnisch – Deutsch, bestätigt seine Vermutung – und schon stürmen die Bilder der Erinnerung auf ihn ein:
Ein Winterabend Anfang 1944, eine weitläufige Halle, kräftige freistehende Balken stützen die Dachkonstruktion. In der Mitte ein gepflasterter Weg, an den Längsseiten frisch aufgeschüttetes Stroh. Die Halle ist mindestens 50 Meter lang, es handelt sich um den Gestütsstall der Gemeinde Schloßberg. Die Kaltblüter, die hier einst standen und sich von harter Feldarbeit ausruhten, tun – oder, besser gesagt, taten – schon seit Jahren ihren Dienst fürs Vaterland. Nun sind es Frauen und Kinder, die aus der zerbombten Reichshauptstadt nach Ostpreußen evakuiert werden. Sie liegen jetzt erschöpft, verunsichert auf der beruhigend duftenden Unterlage, freigegeben zur Besichtigung – nein, das wäre unfair – zum Kennenlernen und zur Vermittlung an die bäuerlichen Gastgeber. Erste Eindrücke nehmen Gestalt an: Das neue Zuhause wird der Hof des Bauern Hirth sein. Eine sympathische Familie, Vater, Mutter und zwei Kinder nehmen die Gäste aus Berlin unter ihre Fittiche. Der eine Sohn hat einen frisch verbundenen Arm, gebrochen bei einem Schlittenunfall auf dem kleinen Hofweiher. In der Mitte des zugefrorenen flachen Gewässers steht ein kräftiger Pfahl mit einem dicken eisernen Dorn in der Spitze. Eine drei, vier Meter lange Stange ist mittels einer Schrauböse in diesen Nagel eingehängt und am anderen Ende mit einem Schlitten verbunden. Einer der Jungs streut im Umkreis des Pfahls Sand auf das Eis und bringt das Gefährt mit Hilfe der Stange auf ansehnliche Geschwindigkeit. Sein Bruder auf dem Schlitten verliert schließlich den Halt und landet unsanft an einem Baum am Rand des Teichs. Na und? Arm heilt wieder, weitermachen. Der Leser erinnert sich an seine „Schlittenfahrt“: Ab einer gewissen Geschwindigkeit stellt sich die Kreisbahn senkrecht. Später wird er begreifen, daß das eine Irritation der Gleichgewichtsorgane in den Ohren ist.
Wenn der Schnee abends zu hoch liegt und das Toilettenhäuschen zugeschneit ist, geht’s mit der Stallaterne zu den Kühen. Aufmerksam mustern sie den späten Gast und begrüßen ihn mit einem leisen “Mhuuhuh“.
Bald hat sich auch der Hofhund, ein großer schwarzgelber Schäferhund, an ihn gewöhnt und freut sich auf das tägliche Futter. Im Frühjahr darf der Zehnjährige aus Berlin zwei Gänseküken betreuen, für den Knaben ein Erlebnis besonderer Art. Einige paradiesische Monate, die die Erinnerung an das tägliche Sirenengeheul, das schnell im blechern polternden Getöse der Bombeneinschläge untergeht, verdrängen. Der erste Ritt auf einer freundlichen Warmblüter-Stute endet schnell, aber ohne größere Verletzungen, im Graben. Tutta – ja, auch der Name des Pferdes wird im Reigen der Bilder aus den Tiefen eines faszinierenden Archivs angeliefert – hat sich vor einem entgegenkommenden Leiterwagen erschreckt und macht einen Satz zur Seite. Der Knabe hat wieder Bodenkontakt und ein paar blaue Flecken. Trotzdem – ein kleiner Frieden, mitten im großen Krieg.
Doch der Schein trügt.
Denn die Front nähert sich unaufhaltsam. Es könnte ein fernes Sommergewitter sein, wenn da nicht diese bösartige Gleichförmigkeit, dieses Rollen wäre, das auch im Frühsommer eine Gänsehaut verursacht. Herbst 1944. Der Rest ist Chaos. Zurück in das brennende Berlin – dem Ende zu.
Schißkojendo!

*)1951 kommt es zu den ersten Amnestien für Personen, die wegen ihrer Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus verurteilt worden waren, wie z. B. für den Rüstungsmagnaten Krupp. Während die Amerikaner zunächst noch die Entnazifizierung weiterbetrieben, indem sie einige hochrangige SS-Offiziere hinrichteten, führte die wachsende Selbständigkeit der deutschen Justiz dazu, dass zunehmend NS-Täter von Amnestien profitieren konnten. Bis zum 31. Januar 1951 wurde 792.176 Personen eine Amnestie ausgesprochen.
1952, Februar: Der Bundestag beschließt in der Großen Wehrdebatte mit 204:156 Stimmen, dass die Bundesrepublik einen militärischen Beitrag an der Seite der Westmächte leisten solle.

(Quelle: wikipedia)