An einem dunklen Herbstmorgen im Jahre 1962, punkt sechs Uhr dreißig, schnitt Dr. Vogel mit einem scharfen Chirurgenmesser meine rechte Hand auf: ein Komplott zwischen ihm und meiner Mutter. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was er an jenem wichtigen Tag mit mir vorhatte, um mir die Schmerzen im Handgelenk zu nehmen, die mich in grausamer Regelmäßigkeit heimsuchten - in der Zeit vor jener Operation beinahe stündlich - wenn nicht gar ununterbrochen.
Ich erhielt lediglich eine örtliche Betäubung und konnte im Geiste nachvollziehen, wie Dr. Vogel mit allerlei Gerätschaften in meiner Hand umherfuhrwerkte. Es hörte sich gruselig an und ich wünschte meine Mutter in die Wüste des Niger.
Eine Viertelstunde später formte jener Doc, der mich im achten Lebensjahr ganz hervorragend von meinen ständig entzündeten Mandeln befreit hatte, über einem Softverband den mich vier Wochen später vor einem möglichen Totschlag rettenden Gips: Er reichte von den Mittelfingerknochen bis zum Ellenbogen – und ich ahnte damals nicht im Geringsten, dass mir dieser lästige Umstand möglicherweise das Leben gerettet hat.
Ich konnte Dr. Vogel nicht böse sein wegen dieser absurden „Aufschneiderei“, eine Art Placebo, weiter nichts; er war zu gütig, in meinen Augen sogar schön und ohne jeden herablassenden Habitus. Der Chefarzt unseres einzigen Krankenhauses war darüber hinaus sehr speziell: um die fünfzig, auffallend schlank und ungemein reich - ihm gehörten mehrere Häuser und Grundstücke - und ich bin immer noch der festen Meinung, dass ich hernach in meinem bereits fortgeschrittenen Leben niemals bei einem intelligenteren Arzt in Behandlung war. -
Als der Gips endlich wie angegossen und volominös an meinem eher dünnen und vom Sommer gebräuntem Arm saß, hatte ich mich unsterblich in Dr. Vogel verliebt. Er erklärte mir mit unbeschreiblicher Güte und Ruhe, was er an meiner Hand verändert habe und wie ich mit dem Gips-Monstrum umgehen solle. Ich glaubte, einen Heiligenschein an ihm entdeckt zu haben; dieser schwebte wie die Funktion „Zauberstab“ in meinem Zeichenprogramm um sein vergeistigtes Haupt.
Es war meines Erachtens nicht schwierig, sich in Dr. Vogel zu verlieben, noch nicht mal für eine Dreizehnjährige, sofern sie geistig ein wenig fortgeschritten war, was nicht unbedingt heißen soll, dass ich besonders gut in der Schule gewesen wäre; aber ich hätte es zweifellos ohne große Anstrengung sein können, sofern ich es nur gewollt hätte. Ich wollte damals … viel lieber lesen und träumen. Weniger leicht war es jedoch, diese Liebe in vollem Bewusstsein aufrechtzuerhalten, da man den viel beschäftigten Mann kaum zu sehen bekam. Auch ich musste mich ganze sechs Wochen gedulden, bis ich meine neue alte Liebe wiedersehen durfte – dann sollte das Gips-Monstrum vernichtet werden.
Ich weiß seinen Vornamen leider nicht mehr, meine jedoch, dass er „Rudolf“ geheißen hat – wie einer meiner Onkel, den wir ein paar Jahre nach dem Krieg leider gänzlich aus den Augen verloren, weil er in die DDR „geflüchtet" war und dort angeblich eine Zeitlang Bürgermeister in Frankfurt an der Oder gewesen sein soll. Möglicherweise habe ich dort noch 'vornehme' Verwandte.
Dr. Vogel war mittelgroß (ich hätte ihm damals ein Dankesküsschen auf die Wange drücken können, ohne mich dabei großartig auf Zehenspitzen stellen zu müssen; aber leider war ich dazu viel zu schüchtern) und, wie ich bereits erwähnt habe, sehr schlank. Er hatte eine kleine Halbglatze (Platte mit schwarzen Resthaaren), große dunkelbraune Augen und ein sehr schmales, asketisches Gesicht. Trotz seines Reichtums fuhr er zu jener Zeit mit einem alten, klapperigen Fahrrad durch die Gegend und kleidete sich dermaßen nachlässig, dass die Leute hinter vorgehaltener Hand flüsterten: „Unser Doc läuft wieder mal rum wie Nikodemus in der Nacht.“
Ein halbes Jahr später, als im Religionsunterricht die Rede von Nikodemus war, wir nahmen das Johannesevangelium durch, musste ich die ganze Zeit an Dr. Vogel denken und betrachtete mit großer Intensität die schmale Narbe auf meiner rechten Hand (die noch sichtbar war, aber nicht mehr glühte), weshalb ich gegen Ende der Stunde verwarnt wurde, weil ich nicht aufgepasst hätte.
Es war zwar richtig, dass Dr. Vogel keinen Wert auf sein Äußeres legte, von Eleganz und/oder Markenware einmal ganz zu schweigen, aber er sah immer sauber aus. Oft trug er einen alten grauen Pullover, der seine schmalen Gliedmaßen betonte, und meistens hing irgendwo ein Faden runter, daran man nur hätte ziehen brauchen, um das schlichte Büßergewand ohne besondere Mühe aufrippeln zu können. Es zog niemand daran – auch ich nicht. - Aber das nur nebenbei.
Aber auch seine privaten Hosen (im Krankenhaus war er stets untadelig in Blütenweiß gehüllt) waren eher die eines expressionistischen Malers, niemand hätte in diesen ausgebeulten Beinkleidern einen Chefarzt vermutet. - Dr. Vogels unübertroffenes Selbstbewusstsein imponierte mir mächtig. Er legte keinen Wert auf die Meinung anderer Leute, sofern es sich nicht um medizinische Dinge handelte, die dem Wohle der Menschheit dienten. - Dr. Vogel war der unabhängigste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Ich bewunderte und liebte ihn dafür, dass er keinen Pfifferling darauf gab, was andere über ihn zu tratschen wussten. - Sogar meine Eltern schienen sehr von ihm angetan; seine Fähigkeiten als Chirurg hatten sich im Kreis Steinburg herumgesprochen.
Um die Geschichte, die eigentlich noch gar keine ist, abzurunden, muss ich leider Gottes eine Person ins Spiel bringen, ohne die ich diese Zeilen nie geschrieben hätte und ohne diesen Gipsarm möglicherweise auch nie hätte schreiben können: Annelie! - Nein, keine Doppelgängerin, lediglich eine Namensvetterin; aber das war mehr als genug und ich bin außerordentlich froh darüber, dass mich dieses dämliche Luder nicht umgebracht hat.
Annelie II. wohnte mit ihrer Mutter im Neubaugebiet in der Nähe unserer Schule und hasste mich, obwohl sie noch nie ein Wörtchen mit mir gewechselt hatte. Meine bloße Anwesenheit auf Erden schien ein rotes Tuch für sie zu sein. Sie war allein schon rein äußerlich das krasse Gegenteil von mir: dick, beschränkter Gesichtsausdruck, sehr breite Schultern, ausladende Hüften und stämmige Beine. Wann immer ich auf dieses Monster mit meinem Namen in der Stadt oder sonstwo traf, machte sie sich mit sichtbarem Vergnügen daran, mich mitten auf der Straße zu verprügeln. Ich hatte dafür nicht das geringste Verständnis, wie ihr euch vorstellen könnt. Auch dass sie in die Schule für lernschwache Kinder ging bzw. gehen musste, erweckte in mir weder Mitleid noch Verständnis für ihre Prügelattacken. Sie hatte eine Schulfreundin, lang und dünn, in deren Begleitung ich sie öfter „Am Neuendeich“ traf, und die halbherzig versuchte, sie davon abzubringen, mich in den Graben zu schubsen oder halb zu Tode zu prügeln.
Ich hatte Annelie II. nie das Geringste angetan, weder über sie gelacht noch mich sonst in irgendeiner Weise über sie mokiert oder sie womöglich geringschätzig angeglotzt, wie es es viele Weiber drauf haben, die neidisch sind, und mir war mir in keinster Weise bewusst, weshalb ich den offenkundigen Hass dieses Mädchens auf mich zog. Später erfuhr ich, dass ich nicht die einzige war, an der sie ihre Wut ausließ, die woher auch immer rühren mochte.
Da ich fast jeden Nachmittag meine Freundin besuchte, lief ich ihr hin und wieder über den Weg. Sobald ich die beiden Gestalten nur von weitem sah, wurde mir so übel wie einem Menschen nur werden konnte, und ich rechnete jedes Mal damit, dass sie mich zusammenschlagen würde. Manchmal versuchte die Dünne, ihre übergewichtige Freundin zu meinen Gunsten zu beeinflussen und sagte: „Ach, hör doch auf, Annelie, lass sie doch.“ Aber das war höchst selten. Kaum, dass Annelie II. meiner ansichtig geworden und auf gleicher Höhe mit mir war, rammte sie mir auch schon die Faust in den Magen oder schlug mir mit einer ihrer dicken Pranken gegen den Kopf, versuchte, mich in den Graben zu schubsen, der sich "Am Neuendeich" bis zum Wasserturm langzog oder stellte mir ein Bein, damit ich der Länge nach aufs Pflaster knallte. Sie war in diesen Dingen äußerst erfinderisch. - Ich hatte die Nase gestrichen voll von diesem mörderischen Duo.
Fortsetzung folgt
gestern, am 04.07.2017. geschrieben