Nachdenken über die Seele

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von Marie Mehrfeld

„Du meine Seele singe“, so klingt es im Choral. Habe ich eine oder habe ich keine, wer oder was ist die Seele, wurde ich mit ihr geboren, ist sie nicht auch in Tieren, wäre ich ohne sie nicht verloren, kann man sie baumeln lassen oder ganz auf sie verzichten, kann man seine Seele verlieren, verkaufen (wie in Sagen und Märchen)? Oder wohnen gar ach! zwei Seelen in meiner Brust (Faust 1, Vers 1112 „Vor dem Tor“)? Das Thema lässt mich nicht los. Ich hoffe, es gibt sie, ich suche sie in der Natur, in den Augen von Menschen und Tieren, in Kirchen, Bildern, Gesprächen und Gedichten, im Denken der alten Griechen und der heutigen Philosophie. Ich werde forschen und nachlesen und berichten, nicht umfassend, nur bruchstückweise, so, wie ich es sehen und erfahren kann und will, werde die zu mir passenden Rosinen aus dem unendlich großen Seelenkuchen herauspicken und in mein eigenes einfaches Denkschema übersetzen.

Die Idee von einer unvergänglichen Seele als der Essenz des Menschen ist älter als die gesamte abendländische Philosophie. In den Höhlenmalereien von Lascaux im Südwesten Frankreichs, die seit etwas 15 000 Jahren existieren, wird die Seele oder ist der Geist der Toten durch einen Vogel symbolisiert. Dieses Bild von der Seele sagt mir zu. Das deutsche Wort Seele stammt angeblich von einer urgermanischen Wortform für See ab. Die Seelen der Menschen, so kann man lesen, lebten vor der Geburt und nach dem Tod in bestimmten Seen, die auch als Totenreich eingestuft wurden. Auch das gefällt mir, ist vorstellbar.
Wie war es bei den alten Griechen, deren Denkungsweise uns bis heute beeinflusst? Für Homer, der in der 2. Hälfte des achten Jahrhunderts v. Ch. gelebt haben soll und als der früheste Dichter (Ilias und Odyssee) des Abendlandes gilt, war sie zweierlei, einmal die Psychē, sie sitzt inaktiv in Mensch und Tier, ist für das Wesen des Lebens wichtig, schützt den Menschen, verlässt ihn während einer Ohnmacht, trennt sich im Tod von ihm und begibt sich dann als schattenhaftes Wesen in die Unterwelt. Er bezeichnete sie aber auch als Thymós, als die Quelle des Lebens, die durch Ereignisse im Leben vermehrt oder vermindert werden kann und zerstörbar ist. Psychē ist ein kalter Hauch, Vorraussetzung für das Leben von Mensch und Tier, Thymós sitzt im Zwerchfell und ist heiß. Zwischen den Begriffen gibt es keine klare Abgrenzung. Sie fließen ineinander. Das ist schwer zu verstehen. Für Sokrates (499-336 v.Ch.)und später Platon (428-348 v.Ch.) ist die Seele immateriell und unsterblich, sie existiert unabhängig vom Körper, also schon vor seiner Entstehung. Seele und Körper sind nach ihrer Beschaffenheit und nach ihrem Schicksal völlig verschieden. Ihr vorübergehendes Zusammentreten und Zusammenwirken ist somit nur zeitweilig bedeutsam, ihre Trennung erstrebenswert; der Körper ist Grab der Seele. Sokrates und Platon setzen die Seele mit der Person gleich, in der sie wohnt. Da alleine die Seele Zukunft hat, kommt es nur auf ihre Förderung und ihr Wohlergehen an. Wegen ihrer Gottähnlichkeit als unsterbliches Wesen steht es ihr zu, über den vergänglichen Körper zu herrschen. Platon schreibt von Seelenwanderung. Die „Seele“ wird als Ursache für das Lebendigsein, für die Wahrnehmung und die Selbstbewegung der Lebewesen eingestuft. Mit einer solchen Seele braucht man keine Angst vor dem Tod zu haben. Aristoteles (384-322 v.Ch.) fragt sich, ob die Seele als Einzelding, als ein „bestimmtes Etwas“, als Qualität oder Quantität zu betrachten ist, ob sie teilbar oder unteilbar ist, ob sie einfach (homogen) oder zusammengesetzt ist, ob die Seelen der verschiedenen Arten von Lebewesen unterschiedliche Definitionen benötigen, ob die Seele eigenständig existieren kann. Er kommt zu dem Ergebnis: Die Seele ist kein eigenständiges Wesen, das unabhängig vom Körper existiert, sondern nur dessen Form. Daher ist sie vom Körper nicht trennbar. Sie verhält sich zu ihm wie das Augenlicht zum Auge. Damit widerspricht Aristoteles der Auffassung Sokrates’ und Platons, die die Seele für unsterblich hielten.
Im Zeitalter der Aufklärung sprach man von der „schönen Seele“ auch in einem weltlichen Sinn – zur Kennzeichnung eines empfindsamen und tugendhaften menschlichen Gemüts. Nach Schiller war diese „schöne Seele“ der Einklang von Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Der große Goethe schreibt in seinem Gedicht „Gesang der Geister über dem Wasser“: „Des Menschen Seele gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es, und wieder nieder zur Erde muß es.“ Und am Schluss: „Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser, Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind.“
Mein theologisch und philosophisch gebildeter Vater hat sich auf Platon berufen und versucht, mir dessen Höhlengeheimnis und seine Bedeutung zu erklären. Deshalb lasse ich mich, was meine Sicht auf die Seele betrifft, auch auf Platon mit seiner Seelenwanderung und der Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele ein. Selbst Homers „Thymós“ inspiriert mich, diese vergängliche warme Seele, die im Zwerchfell sitzt wie das Sonnengeflecht und, wie ich weiß, auch das Lachen. Ich kenne die gute Wirkung des Lachens auf meine Seele.

Wie steht es um die Seele in der heutigen Wissenschaft der Psychologie? Seit etwa 100 Jahren ist der Begriff der Seele aus den Publikationen fast verschwunden und durch Diskussionen über den Geist ersetzt worden. Aber sie ist dennoch nicht nur in der Umgangsprache, sondern auch in unserem „aufgeklärten“ Denken deutlich sichtbar, eine breit angelegte Online Umfrage ergab 2015, dass 70 Prozent der Deutschen noch immer von der Existenz der Seele überzeugt sind. Wie sehr wir uns mit dem Phänomen Seele auch heute noch befassen, zeigen Redewendungen. Man sagt, die Beiden sind ein Herz und eine Seele, er ist mit Leib uns Seele bei der Arbeit, ich rede mir alles von der Seele, die Augen sind der Spiegel der Seele, deine Wort sind Balsam für die Seele, du zeigst mir deine schwarze Seele, man kann den Seelenfrieden suchen oder die Seelenverwandten, oft sind zwei Seelen ein Gedanke, wir fragen, wie geht es deinem Seelenleben …

Viele Menschen brauchen also auch heute noch das Gefühl, eine Seele zu haben. Ich gehöre dazu. Vielleicht ist sie die „Gesamtheit der Gefühlsäußerungen eines lebendigen Wesens“? Das habe ich gelesen, weiß aber nicht mehr, wo, es gefällt mir. Aber selbst wenn ich noch so viel forsche und nachdenke, werde ich doch nie mit Sicherheit wissen können, wer oder was die Seele wirklich ist und ob sie in mir wohnt. Es bleibt beim Ahnen, Sehnen und Glauben: Die Seele ist in mir und in allen lebendigen Wesen, uralte Steine mit eingeschlossen. Sie ist schwer fassbar oder beschreibbar, vielleicht im ständigen Wandel begriffen, im ewigen Kreislauf der Natur enthalten. Ich bekenne, dass ich an die Existenz einer Seele glaube, denn dies gibt mir die Hoffnung, dass mein Leben einen tieferen Sinn hat.

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