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„Warum sind Sie nicht Schriftsteller geworden?“, fragte Jonas.
Peter Schaller schaute von dem selbst gedichteten Text hoch, den er seinen Schülern gerade vorgelesen hatte. Jonas grinste hämisch. Es war klar, dass er seinen Lehrer provozieren wollte. Aber Peter Schaller blieb ganz gelassen.
„Weißt du, Jonas“, begann er, „Lehrer sind eine ganz besondere Spezies, musst du wissen. Lehrer sind nämlich alle verhinderte Irgendwas. Da ist der Sportlehrer, der früher ein ausgezeichneter Schwimmer war, sich dann aber verliebt hat, dem Alkohol zugeneigt war oder einfach nur um fünf Uhr morgens keinen Sinn mehr darin sah, endlos lange Bahnen im Schwimmbad zu ziehen, nur um irgendwann mal bei Olympia schwimmen zu können. Da ist der Musiklehrer, der ursprünglich Konzertpianist hatte werden wollen, dem aber die Finger zu schnell oder zu langsam im Verhältnis zum Takt des Stückes gerieten. Da ist der Kunstlehrer, den die Berliner Akademie für Künste dreimal wegen seiner nichtssagenden Aquarelle abgelehnt hat, oder der Philosophielehrer, der acht Jahre an seiner Doktorarbeit laboriert hat, bevor er entnervt aufgab; und da sind dann noch unzählige Lehrer, die gar nicht richtig versucht haben, ihrer Mittelmäßigkeit zu entfliehen, zu denen, das muss ich zu meiner Schande gestehen, ich mich auch zähle. Dass Lehrer eigentlich gescheiterte Existenzen sind, bemerkt man daran, dass sie mit Schülern wie dir einen Raum teilen müssen. Das ist die Strafe, die sie tagtäglich bezahlen. Selbst wenn sie versuchen, in das Reich des Sublimen, des Erhabenen zu entschwinden, werden sie tagtäglich durch die Banalität des Schulischen auf den Boden der Tatsachen geholt. Wenn du dich also durch deine Frage über mein Geschreibsel lustig machen willst, dann lass mich dir sagen: Du bist ein Meister darin, offene Türen einzurennen, mein pubertärer Eleve.“
Der Schüler Jonas schaute ihn verdutzt an. Es war klar, dass er weder geistig noch rhetorisch dazu in der Lage war, hier einen Konter zu setzen, mit dem er die restlichen Schüler auf seine Seite bringen konnte. Sein Schweigen war ein Sieg für Schaller. Aber dieser Sieg, wie so viele Siege gegen die geistig häufig unterlegenen Schüler, fühlte sich schal an. Schaller hatte schon öfter auf solche Provokationen reagieren müssen, vor allem dann, wenn er zu einem Thema eins seiner eigenen Gedichte oder Prosatexte vortrug. Nicht zuletzt aus diesem Grund saß in der erfolgten Tirade gegen den Schüler Jonas (oder vielmehr der Tirade gegen den Beruf und die Berufung des Lehrers) jedes Wort. Er hatte diesen Konter in anderen Situationen schon zum Besten geben dürfen.
„Aber weißt du, Jonas“, fuhr der Deutschlehrer Schaller fort, „ich habe nie verstanden, warum gewisse Personen den unbändigen Drang verspüren, sich über das Geschriebene anderer Leute lustig zu machen. Ich habe nie verstanden, warum mein Bruder meiner Schwester das Tagebuch aus den Händen riss und mir ihre Einträge mit einem übertrieben säuselnden Ton vorlas, während sie unter Tränen versuchte, ihr Tagebuch wieder zurück zu bekommen. Ich habe auch nie verstanden, warum meine Mitschüler lachten, als unser Deutschlehrer aus Manns Tod in Venedig vorlas. Wirklich nicht. Für mich ist das Wort, geschrieben oder gesprochen, der Wunsch nach Kommunikation, nach Austausch, ein Wunsch, den man niemandem leichtfertig abschlagen sollte. Wer schreibt, hat den Mut, sich verletzbar zu machen. Und, um es mit Büchner zu sagen, Jonas: Ist es nicht ein elendes Vergnügen, andere schlechter zu finden als sich? Wenn du mir also etwas mitzuteilen hast, lieber Jonas, können wir gerne nach der Stunde noch über meinen Text oder deine Meinung dazu reden, einverstanden?“
Nun wirkte der Schüler Jonas völlig überfordert, beinahe eingeschüchtert und gedemütigt. Er ließ den Kopf hängen und wartete darauf, dass die Aufmerksamkeit auf ein anderes Sujet gelenkt würde. Schaller dachte jedoch nicht dran, im Gegenteil, er ließ die peinlich berührte Stimmung noch für einen langen Moment in der Luft hängen, bevor er wieder das Wort ergriff.
„Wir werden nach den Ferien in der Genieperiode weitermachen, besser bekannt auch als Sturm und Drang. Ihr habt zwar noch heute und morgen, aber ich möchte euch an dieser Stelle schon mal schöne Ferien wünschen. Kommt gesund und munter wieder.“
Einige, wenige Schüler hauchten ein ‚Gleichfalls’, der Rest der Schüler verstand das Gesagte lediglich als Signal zum Aufbruch. Hastig packten sie die Taschen, als ginge es bereits in die Ferien, als warte der Flieger gen Süden vor dem Eingang, dabei war dies erst die zweite Stunde des Tages. Die einzige Entspannung die bevor stand, war die des sinnlosen Herumstehens auf dem schmucklosen Pausenhof.
Als der letzte Schüler den Raum verlassen hatte, ging Peter Schaller gemessenen Schrittes zurück ins Lehrerzimmer. Er fand das kleine Lehrerzimmer noch relativ verwaist vor, lediglich die vier neuen Referendare und eine ausbildende Kollegin saßen am Katzentisch und schauten ihn verstohlen an.
„Guten Morgen“, sagte er höflich und ging an ihnen vorbei, ohne auf die gemurmelte Erwiderung zu warten. Er ging in das angrenzende, große Lehrerzimmer und blieb vor dem Vertretungsplan stehen. Er schaute nach, ob die von ihm angelegte Klausur mit den entsprechenden Aufsichten auch eingetragen war, fand den Eintrag, sah, dass er unvollständig war und machte auf dem Absatz kehrt um das Büro des stellvertretenden Schulleiters und Stundenplanmachers aufzusuchen.
„Hallo Georg!“, grüßte er den zwölf Jahre jüngeren Kollegen und A15er (plus Zulage) und klopfte dabei an die offene Tür. „Hast du kurz Zeit?“
Georg Weber fixierte für ein paar Sekunden noch den Bildschirm vor ihm, tippte etwas in die Tastatur und schaute dann hoch zu Peter Schaller.
„Klar. Was gibt es denn?“
Sein aufgewecktes, fast jugendliches Gesicht gab Georg Weber etwas sehr Dynamisches. Viele Eltern und neue Kollegen hielten ihn für Mitte Dreißig und waren dann bass erstaunt, wenn sie erfuhren, dass er der stellvertretende Schulleiter war. Und auch wenn er tatsächlich schon über Vierzig war, hatte er innerhalb von zehn Jahren zwei Besoldungsgruppen hinter sich gelassen. Peter Schaller in über zwanzig nur eine.
„Es geht um die Grundkursklausur in der Q1. Ich hatte die Schreiber in Bio, Informatik und Kunst zusammengelegt und in die Aula gepackt. Auf dem Vertretungsplan taucht aber nur die Informatikklausur auf. Ich fürchte, dass die Bio- und Kunstschreiber nicht wissen, wo sie hinmüssen.“
„Stehen denn die Räume nicht auf dem Klausurplan?“, erwiderte Georg Weber