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gelassen und ‚Hau endlich ab!’ geschrien hatte.
„Wie geht’s dann übermorgen bei dir weiter?“, fragte Schaller seinen Kollegen und Freund.
„Erstmal auspennen und dann sehen wir weiter. Am Samstag geht’s mit dem Boot los!“
Harald Mertig hatte in den letzten zwei Jahren seinen Bootsführerschein gemacht und sein großer Traum, den Rhein und die Ruhr rauf und runter zu schippern, sollte nun in Erfüllung gehen. Fast jede Verrentung begann so. Erst fühlte sich alles wie Urlaub und Ferien an, dann aber, wenn die Schule wieder ohne einen losging, tat sich den Pensionären die endlos scheinende Zeit wie ein schwarzes Loch auf, das einen Sog entwickelte, der so manch gestandenem Veterinär das Fürchten lehrte. Jetzt kommt nur noch der Tod, dachten sie dann, und dieser Gedanke wandelte sich nicht selten zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Harald Mertig jedoch schien optimistischer.
Als Schaller sein Gespräch mit Mertig fortführen wollte, ertönte plötzlich eine Trompete aus dem Hintergrund. Schlagartig drehten die Kollegen ihren Kopf zur Quelle des Geräusches: auf der Mitte des Hofes, rechts von der Bierbänken und Tischen, stand stolz und dickbäuchig der Musiklehrer Kutz in seiner abgewetzten Jeans samt Holzfällerhemd und Hosenträger und blies eine Fanfare. Hinter ihm aufgereiht standen fünf weitere Kollegen, zwei junge, drei alte, die Partyhüte aus Pappe auf ihrem Kopf und Blasinstrumente aus Plastik in ihrer Hand trugen. Die Reihe setzte sich gemächlich in Gang und versuchte im Gleichschritt den Kopf des Platzes zu erreichen. Als sie dort angekommen war, stellten sich die Kollegen nebeneinander auf und der Musiklehrer Kutz holte eine Schriftrolle hervor, die er übertrieben theatralisch aufrollte. Verstohlen und verschmitzt schaute er nach links und rechts, fuhr sich mit seiner massigen Pranke durch das halblange, längst ergraute, leicht fettige Haar und hob zum Sprechen an, noch bevor sich alle ihm zugewandt hatten und still geworden waren.
„Hört, hört, liebe Leute, ich bringe euch frohe Kunde, so seid nun einmal still in der Runde. Unser Freund und Kollege Harald Mertig, hat, wie der Trapper Toni einst sagte, endlich fertig. Er wird, nach über vierzig Jahren, mit seinem Boot von dannen fahren. Wird er auch von uns scheiden, so können wir ihn doch gut leiden. Weitere Worte mache ich nicht viel, lieber Harald, ich wünsche dir stets eine Handbreit Wasser unterm Kiel.“
Während einige Kollegen lachten, unter anderem auch Harald Mertig, musste Schaller hier bereits das erste Mal mit den Augen rollen. Er nahm sich zu diesen Anlässen zwar immer wieder vor, die positive und freundlich gesonnene Stimmung zu absorbieren, merkte aber dann schnell, dass es wider seine Natur war. Vielleicht war es auch Ernüchterung darüber, dass sich in der Darbietung seiner Kollegen die eigene Mittelmäßigkeit spiegelte.
Nach der Verkündung gesellten sich noch einige Kollegen zu der Gruppe und stellten sich in der Formation eines Chors auf. Zwei junge Mathematiklehrer, Gerner und Lehmann, taten dies so eilfertig und mit einer exzessiven Mimik, die allen Anwesenden vermitteln sollte, dass die beiden eine ironische Distanz zum eigenen Handeln besaßen. Eine ältere, rothaarige Kollegin, Frau Rademacher, die vor allem die männlichen Schüler nur ‚die Hexe’ nannten, reihte sich ohne jegliche Allüren ein und holte nebst Lesebrille ein Blatt mit Noten aus ihrer Handtasche. Einer weiteren Kollegin, Frau Schulze, die aufgrund ihres massigen Gewichts den ganzen Tag nur ängstlich durch die Flure und Klassen des Leonhard-Eulers-Gymnasiums huschte, sah man an, dass sie lieber woanders wäre, und ein ebenso beleibter Kollege, den Schaller noch nicht mit Namen kannte, versuchte, ebenso erfolglos, mit seiner Masse in der anderen zu verschwinden.
Musiklehrer Kutz gab den Dirigenten und stellte sich vor dem Lehrerchor hin. Er zählte an und dann begannen zwölf Kolleginnen und Kollegen ein Lied zu intonieren, das der Melodie eines Gassenhauers von Udo Jürgens ähnlich war, aber einen auf den Kollegen Mertig gemünzten Text enthielt. Die Reime und Sprüche in diesem Lied waren dem Einfallsreichtum der vorhergehenden Verkündungsszene in nichts überlegen und von den Tönen der Melodie wurde auch nur jeder dritte annähernd getroffen. Schaller versuchte, seinen Blick auf den Boden zu wenden, um nicht laut lachen oder weinen zu müssen. Er konnte sich mit Mühe bis zum Schluss des Liedes beherrschen und hatte sich dann sogar so weit wieder im Griff, dass er den Menschen um ihn herum wieder in die Augen schauen konnte.
Nachdem diese musikalische Tortur beendet war und der Chor den Platz verlassen hatte, trat der Schulleiter, Herr Diedrichs, aus der Menge der Umstehenden hervor und stellte sich, mit einer Kladde bestückt, ungefähr dahin, wo Musiklehrer Kutz kurz zuvor noch gestanden hatte. Reinhold Diedrichs, inthronisiert von seinem Vorgänger und Parteifreund Manfred Siemer, war erst seit drei Jahren Schulleiter und selbst einmal Schüler des Leonhard-Euler-Gymnasiums gewesen. Diese quasi inzestuöse Regelung der Nachfolge war Schaller sauer aufgestoßen, allerdings hatte sich der einzige externe Bewerber in einer Vorstellungsrunde im Rahmen einer Lehrerkonferenz so schwach präsentiert, dass Schaller die Schule hinsichtlich ihrer künftigen Führung zwischen Skylla und Charybdis wähnte. Reinhold Diedrichs war auf den ersten Blick ein gemütlicher, umgänglicher und fairer Schulleiter, doch was er wirklich taugte, ließ sich noch nicht sagen.
„Mein lieber Harald“, begann der neue Schulleiter und erhob sein Bierglas.
Was folgte, war eine weder sehr persönliche, noch allzu distanzierte Eulogie auf den scheidenden Kollegen unter Zuhilfenahme der Personalakte und anderer Paraphernalien. Die aus der Akte entnommenen Daten dienten dem Lobredner als Trittsteine, die ihm über das seichte Gewässer seines munter dahin plätschernden Monologs auf die andere Seite helfen sollten, auf der übrigens auch das Grillbüffet mit den Referendaren stand. Ein Trittstein war die Beurteilung des ehemaligen Schulleiters, der Mertigs Beförderung zum Oberstudienrat ermöglicht, ein anderer Trittstein war der Sonderurlaub, den er für seine Vermählung zugestanden bekommen hatte und ein weiterer Trittstein der Bericht eines Oberstufenschülers über eine Studienfahrt nach Weimar im Jahre 1992. Der letzte Trittstein schließlich war ein Versuch des Schulleiters, sich selbst mit seiner ganzen Leibesfülle aufs Korn zu nehmen, offensichtlich, um nahbarer und menschlicher zu wirken.
„Lieber Harald“, sagte er, „uns allen ist nicht verborgen geblieben, dass so mancher Schüler dir den Kosenamen Mr. Pringles gibt, der natürlich vor allem auf deinen wundervollen Schnauzbart abzielt. Das rundliche Gesicht ist natürlich ebenso Teil dieser Physiognomie, aber lass dir gesagt sein, dass beide Elemente eine, wie ich finde, wundervolle Einheit bilden. Und neben mir, lieber Harald, gehst du doch immer noch als dünner Hering durch. Ich wünsche dir also im Namen des Kollegiums und der Mitglieder der Schulleitung einen schönen Start in die Pension und einen weiterhin gesunden Appetit.“
Unter dem teils verhaltenen, teils lauten Beifall, unter dem Gelächter und Gelächel der versammelten Kollegen, machte sich der Schulleiter, mit einem von der Sekretärin gereichten Blumenstrauß und Geschenk auf dem Weg zum scheidenden Kollegen. Die Art, wie beide sich umarmten, ließ Schaller an die aufblasbaren Sumoringer-Anzüge denken, die er mal auf einem Abischerz gesehen hatte. In den Gesichtern der umstehenden Leute konnte er ähnliche Gedanken ablesen, aber jeder unterdrückte den Impuls, dieses Schauspiel zu kommentieren. Als der Schulleiter sich aus der Umklammerung löste, war es an Harald Mertig, sich mittig hinzustellen und ein paar warme Worte zu verlieren.
„Tja“, begann Harald Mertig, und seufzte in der ihm eigenen Art. „Nu iss er da, der Tag X.“
Wie Harald da so stand, so unprätentiös wie unvorbereitet, hätte Schaller ihn gerne direkt in den Arm genommen. So manch scheidender Kollege vor ihm hatte diesen letzten Auftritt für ein Abrechnung mit der Schulleitung, der Bildungspolitik oder unliebsamen Kollegen genutzt, manche hatten auch in einer ellenlangen Suada mit Intellekt zu glänzen versucht oder vermocht und wiederum andere hatten sich dieser Abschiedszeremonie ohne Ankündigung komplett entzogen. Harald aber stand einfach nur da, echt und ehrlich, und sprach wie er immer sprach: von Herzen.
„Erstmal möchte ich mich bei den Kollegen bedanken, die so toll gesungen haben. Der Udo Jürgens ist ja schon auch ein toller Sänger, so watt kann man gar nich verhunzen. Ich möchte mich aber auch bei allen Anwesenden heute bedanken, ich war immer gerne Lehrer und ich war immer gerne am Leonhard-Euler. Vierzig Jahre sind ne lange Zeit und klar hab ich mal dran gedacht, mich versetzen zu lassen, nochmal watt anderes zu machen, Fachleiter werden zum Beispiel. Aber irgendwie, irgendwie war ich immer zu faul, zu gemütlich, wahrscheinlich weil et mir ja eigentlich gut ging hier. So, ich möchte jetzt auch gar nich mehr lange reden, denn ich hab Hunger, aber eins möchte ich doch noch sagen, watt vielleicht wie ein Appell rüber kommt aber gar nich unbedingt so gemeint ist. Wir sind ja mittlerweile eine, hier, wie sacht man datt jetzt, ne Brennpunktschule. Und die Schülerschaft hat sich wirklich sehr gewandelt in den letzten Jahren. Früher waren dat die Arbeiterkinder, dann kamen die Gastarbeiterkinder und jetzt sind datt fast nur noch deren Kinder, also mit Migrationshintergrund, wie ett jetzt so schön heißt. Aber die Arbeit ist eigentlich doch dieselbe geblieben. Wir sind ein Gymnasium, ja, aber eins im Norden der Stadt und datt heißt datt wir nicht nur Lehrer für die Kinder sind, sondern bisschen auch sowat wie Eltern. Und datt, finde ich, sollten wir nicht vergessen. Am Leonhard-Euler waren immer Kollegen, die die Schüler in den Blick genommen haben, die den Schülern ne Chance geben wollten, und dat wünsche ich mir von ganzem Herzen, datt dat bitte so bleibt. Tja, dat wart eigentlich schon. Danke nochmal und guten Hunger!“
Der Applaus, den Harald Mertig für diese improvisierte Rede bekam, war, wie Harald selbst, aufrichtig und echt. Auch Peter Schaller, der viele Jahre mit Harald Seite an Seite gearbeitet hatte, war gerührt und auch ein wenig betroffen vom Weggang eines geschätzten Kollegen. Harald war einer der letzten Granden, dank des an Schulen grassierenden Schweinezyklus’ wurde in den vier letzten und fünf kommenden Jahren das komplette Kollegium einmal ausgetauscht. Jüngere rückten nach, mit neuen Ideen und vor Energie strotzend, die ergrauten Frontalunterrichtler dankten ab. Peter Schaller hing diesbezüglich in der Mitte, er war mit seinen zweiundfünfzig Jahren weder richtig jung noch richtig alt. Aber nun, als er den Blick in die Runde warf und sich ausschließlich von Zwanzig- bis Dreißigjährigen oder Sechzig- bis Siebzigjährigen umgeben sah, fühlte er sich wie ein waidwunder Soldat im Niemandsland, irgendwo zwischen Kampf und Aufgabe.
Der Nachmittag klang gemütlich aus. Schaller blieb noch insgesamt zwei Stunden, unterhielt sich mit Harald, schwatzte mit Frau Rademacher und scherzte mit Herrn Diedrichs. Zwischendurch kam einer der neuen Referendare fast schon demütig auf ihn zu und fragte, ob er nach den Ferien bei ihm im Englischunterricht in der Q1 hospitieren und vielleicht auch unterrichten könne. Schaller sagte sofort zu, nicht nur, weil er gerade neben dem Schulleiter stand, aber auch. Der Referendar, der sich als Niklas Wagner vorstellte, war überdurchschnittlich groß, blass und hager. Sein blondes Haar fiel ihm in dünnen Strähnen ins Gesicht, seine Ohren waren leicht überdimensional, seine blauen Augen durchdringend und der Mund eher schmal. Er wirkte wie ein ausgewachsener Michel aus Lönneberga, der Schalk saß ihm immer noch im Nacken, aber er konnte ihn kontrollieren. Schaller war sich unschlüssig darüber, ob dieser Niklas vor einer Klasse bestehen könne. Aber er hatte auch schon Referendare erlebt, die rum liefen wie Falschgeld, kaum Körperspannung besaßen, jedoch, sobald sie einen Klassenraum betraten, einen unsichtbaren Schalter umlegten, und plötzlich eine Begeisterung und Dynamik ausstrahlten, die auf die Schüler übersprangen. Vielleicht war dieser Niklas so ein Kandidat. Es blieb abzuwarten.
Gegen sechs Uhr abends fuhr Schaller nach Hause. Der Verkehr auf der Autobahn floss zäh dahin, aber Schaller hatte es nicht eilig. In Gedanken hing er dem Nachmittag nach, dem Abschied eines geschätzten Kollegen. Seine Stimmung war zunächst nostalgisch-melancholisch, doch mit jedem gefahrenen Kilometer fühlte Schaller eine Verzweiflung in sich aufsteigen. Frei nach der amerikanischen Dichterin Anne Sexton, derzufolge ein Schmerz wie eine Seuche erforscht werden müsse, versuchte Schaller den Grund seines plötzlichen Trübsals zu eruieren. Was bekümmerte ihn?
Aber dann, plötzlich, kam die Erleuchtung. Als er die Ausfahrt nach Hause nahm, wusste er, dass ihm durch die Art und Weise, wie Harald sich und wie man Harald verabschiedet hatte, etwas klar geworden war. Wenn man ihn, Oberstudienrat Schaller, in dreizehn Jahren genauso verabschiedete, würde er, im Gegensatz zu Harald Mertig, sein Leben als gescheitert und unerfüllt betrachten. Und momentan sah es so aus, dass es genauso kommen würde.